Eine Zitrone für Laurent Fignon

■ Eine hochdramatische Tour de France ging (nach Redaktionsschluß dieser Seite) zu Ende

Berlin (taz) - „Du fühlst Dich plötzlich, als ob du gegen eine Mauer anfährst. Es ist eine echte Mauer, die du nicht überwinden kannst, aber etwas zwingt dich, immer weiterzumachen. Es ist, wie wenn ein Kind träumt - ich träumte es jedenfalls -, daß es voller Verzweiflung rennt, aber nicht vorankommt, und es befällt dich eine eine schreckliche Furcht.“ So beschrieb Pedro Delgado vor Beginn der Tour de France den sogenannten „Hungerast“, das Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Radfahrer vor einer Etappe zu wenig gegessen hat. „Wenn Du Profi bist“, fügte er zuversichtlich hinzu, „machst du solche Extreme nicht mehr durch, weil die Dinge besser organisiert sind.“

Irrtum! Genau ein solches Nahrungsdefizit war es, das Pedro Delgado dieses Jahr den Sieg kostete. Die 2:40 Minuten, die er beim Prolog einbüßte, als er zu spät zum Start erschien, hätte der 29jährige Spanier, der vor dem abschließenden Zeitfahren von Versailles nach Paris 2:28 Minuten hinter dem Spitzenreiter Laurent Fignon lag, locker aufgeholt. Entscheidend waren die fünf Minuten, die er beim Mannschaftszeitfahren am zweiten Tag in Luxemburg verlor, als er seinen Kollegen vor lauter Kohldampf kaum folgen konnte.

Delgados Dummheiten hatten lange Zeit für einen höchst spannenden Verlauf der Tour gesorgt. Nach seiner Aufholjagd in den Pyrenäen trauten ihm Experten wie Hinault oder Merckx plötzlich wieder den Sieg zu, nachdem sie ihn in Luxemburg bereits abgeschrieben hatten. Erst in L'Alpe d'Huez am Mittwoch konnte der führende Laurent Fignon endlich aufatmen: „Der Spanier zählt nicht mehr.“

Dem höllischen Tempo, das Delgado bei seinem Durchmarsch vom letzten zum dritten Platz anschlug, konnten auch viele offene und geheime Favoriten nicht folgen. Herrera und Hampsten fielen weit zurück, Roche und Parra kamen, ebenso wie Rolf Gölz, gar nicht nach Paris. Auch Kappes spielte keine Rolle und mußte sich von Merckx Konzeptlosigkeit vorwerfen lassen.

Der Amerikaner Greg LeMond dagegen hatte ein Konzept. Wo es nur ging, ließ er sich mitziehen und wurde darob von Fignon als „Hinterradlutscher“ beschimpft. Geradezu peinlich wurde seine Taktik, als auf der 18.Etappe der Träger des gelben Trikots, Laurent Fignon, plötzlich enteilte. Wie immer war es Delgado, der sich an die Verfolgung machte, sogleich klebte LeMond an seinem Hinterrad. Als der Spanier der Meinung war, sich lange genug gequält zu haben und abbremste, um LeMond, der nur 26 Sekunden Rückstand auf Fignon hatte, auch mal die Führung zu überlassen, war des Amerikaners einzige Reaktion, daß er ebenfalls bremste. Zur Strafe gewann Fignon die Etappe und vergrößerte seinen Vorsprung auf 50 Sekunden.

Eine Trophäe hatte Fignon schon vorher gewonnen: den „Prix Citron“, den die Fotografen für den unhöflichsten Fahrer vergeben. Von 37 Stimmen erhielt der 28jährige Griesgram 35, ein Ergebnis, das seine Ehefrau voll in Ordnung fand: „Er ist unerträglich, wenn er sich so wie jetzt konzentriert.“ Auch die Aussicht auf seinen dritten Toursieg nach 1983 und 1984 konnte Fignon kaum sanftmütiger stimmen. „Lächeln, lächeln“, raunzte er eine Frau an, die ihn bat, für ein Foto doch etwas freundlicher dreinzublicken, „ich bin genauso hübsch, wenn ich nicht lächle.“ Nicht nur den Fotografen, auch der französischen Öffentlichkeit ist der Mann mit dem Zopf, der Nickelbrille und dem intellektuellen Image zu distanziert. „Ich mag es nicht, wenn man mir auf die Schulter klopft“, sagt Fignon, und das ist eine Sache, die ein französischer Radsportfan nur schwer verstehen kann.

Matti