Was man nicht vergessen sollte

■ Heute werden in Bayreuth die Richard-Wagner-Festspiele mit einer Neuinszenierung des „Parsifal“ eröffnet / Ein Roman über Wagners ersten „Parsifal„-Dirigenten Hermann Levi für die Reise auf den grünen Hügel

Elisabeth Eleonore Bauer

Es ist die sechste Neuinszenierung des Parsifal, zum zweiten Mal führt Enkel Wolfgang die Regie. Der ist jetzt 70 Jahre alt. Weiter meldet 'dpa‘, daß Richard Wagner „dem zum Erfolgsprinzip erhobenen Egosimus die humane Idee des Mitleidens“ habe entgegensetzen wollen, der Parsifal sei sein „radikalster Versuch“, einem materialistischen Zeitalter das „Fundament der Humanität“ zu geben. Soweit die Lesart heute.

Vor hundertsieben Jahren, am 26.Juli 1882, stand bei der Uraufführung der berühmte Dirigent Hermann Levi aus München am Pult - eben jener Jude Levi, den Cosima Wagner in ihren Tagebüchern stets nur „unseren armen Kapellmeister“ zu nennen pflegte. Voll Mitgefühl war auch ihr Gatte. Er bedauerte, daß „den guten Juden unter uns immer ein wehmütiges Los beschieden ist“, und erbot sich, selbst die „Formel zu finden, um so einen armen Menschen wie Levi zu taufen“. Er nahm ihn auf in den Familienkreis, lud ihn zum Essen, machte ihn bekannt mit dem Hausfreund Gobineau und diskutierte mit ihm offen und ehrlich über Fragen der Religion, wie zum Beispiel über die Thesen des Hofpredigers Stöcker. Anschließend äußerte er sich anders - Cosima notiert: „Wir sind froh, ein wenig für uns zu sein, wie die Freunde sich entfernt haben, und R. klagt über den befangenen Umgang mit den Israeliten, mit denen man immer pathetisch sein müsse.“ Und weiter: „Wie wir von der Anhänglichkeit gewisser Juden an R. sprechen, sagt er: Sie sind wie Fliegen; je mehr man sie verscheucht, um so mehr sind sie da.“ Oder, ein andermal, wirft er dem Lessing eine gewisse „Fadheit vor“ und „sagt im heftigen Scherz, es sollten alle Juden in einer Aufführung des Nathan verbrennen“.

Diese Stellen aus den Tagebüchern sind selbstverständlich allgemein bekannt. Hermann Levi aber war einer jener „Hausisraeliten“ in der Villa Wahnfried, die gerne als Beweis dafür genommen werden, daß es dem Meister mit seinem militanten Antisemitismus so ernst nicht gewesen sein könne. Dabei ist doch auch bekannt, daß sich Wagner seinen Parsifal-Dirigenten nicht selbst ausgesucht hat, ihn vielmehr nolens volens akzeptieren mußte auf ausdrückliche Weisung seines königlichen Mäzens hin. Selbst von jenem anonymen Brief wird oft berichtet, den Wagner, wiederum wohl heftig scherzend, dem armen Kapellmeister vier Wochen vor der Uraufführung unter die Nase hielt: in dem es hieß, er möge doch bitte sein Werk „rein erhalten und es nicht von einem Juden dirigieren lassen“, der zu allem Übel noch ein Verhältnis mit Frau Cosima habe. Levi reiste ab und bat um seine Entlassung, er kehrte zurück und dirigierte dann doch.

Es gibt eine Reihe zorniger Essays zum antisemitischen Wagner, ein paar Aufsätze auch über den Fall Levi. Peter Gay hat den jüdischen Selbsthaß daran analysiert und Hartmut Zelinsky den Parsifal als ein Reinigungsritual beschrieben, in dem das Christusbild von aller jüdischen Tradition ein für allemal befreit sei - womit denn auch die subtilen Kriechströme zwischen Kunst und Politik aufgedeckt wurden: zwischen der geistigen Botschaft und der brutalen Tat, zwischen der „Erlösung des Erlösers“ und der Endlösung der Judenfrage. So etwas wird gelesen von einigen und diskutiert von wenigen, dann widerlegt oder zu den Akten gelegt, und jedenfalls von den meisten ignoriert. Wissenschaftliche Analysen gehen den Wagnerianern sowieso nicht so sehr unter die Haut (ein nüchterner Quellenberg ist kein Argument gegen einen besoffenen Vorhaltsakkord) - und im übrigen ist es längst aus der Mode, öffentlich nachzufragen, wie antisemitisch ein Künstler denn sein darf. Jetzt hat der DDR-Autor Rolf Schneider einen schönen Trivialroman dazu geschrieben oder vielmehr, den Betroffenheitsbericht eines Bayreuthpilgers. Oder eigentlich: die längst überfällige Biographie des Hermann Levi. Wie auch immer, das Buch liest sich wie von selbst, es ist zum passenden Zeitpunkt erschienen und paßt in jede Handtasche, aber überhaupt nicht ins derzeit so moderate Bayreuth-Bild.

Statt positiv zu denken, wie es sich gehört, schlägt Schneider vor: „Es bestände Anlaß, nachzudenken.“ Er reist nach Bayreuth als Tourist, Flaneur, Voyeur, Sammler, Historiker und Hallo-Herr-Nachbar zugleich, er klatscht und sülzt herum, zitiert, berichtet und befragt buchstäblich jedes Ding nach seiner Geschichte. Die Fleischextrakt -Sammelbildchen im Museum mit Bildern aus Wagners Leben führen ihn geradewegs ins chemische Laboratorium des Justus Liebig nach Gießen, von dort über den 'Hessischen Landboten‘ und die Famlie Liebknecht wieder zurück ins Haus des Rabbis Benedikt Levi, desen Sohn so musikalisch war. Wie zufällig fügen sich die banalsten Bemerkungen zusammen und machen Sinn, auch private Gedanken haben ihr öffentliches Interesse. Schneider schreibt, was er sieht und sich dazu denkt, wie es ist. Wagner kann er nun einmal nicht leiden, soviel ist klar - seine Musik findet er giftig, auch das ist nichts Neues. Doch geht das lakonisch ab, ohne Zorn und erhobenen Zeigefinger, gerade deshlb gelingt denn auch die plausible Mischung von Fakten und Fiktion. So könnte es gewesen sein: daß Wagner selbst in aller Öffentlichkeit die geheimen Worte des anonymen Briefes gesprochen hat und einige mehr noch, daß Levi am Abend nach der Generalprobe im Regen zum Bahnhof ging und eine Fahrkarte kaufte, die er dann nicht benutzte.

Die Geschichte fängt an mit der Abfertigung am Grenzübergang Hirschberg-Rudolphstein, denn Schneider macht sich auf nach Bayreuth, um den Wende-Ring zu erleben mit Peter Hall. Sie hört auf mit einer unerträglichen Vision des Holocaust, denn Levi dirigiert den Parsifal: „In diesem Augenblick hielt Hermann Levi die Szene an... Die Gralsritter, fette, häßliche Choristen in schlecht gemachten Moritz-von-Schwind-Kostümen, verloren allmählich von ihrem Flesich. Sie strafften sich. Wie Insekten aus ihren Kokons krochen sie aus ihren lächerlichen Gewandungen, schlanke junge Männer mit kurzgeschorenen blonden Haaren, in schwarzen Uniformen und blanken Stiefeln. Sie lächelten. Sie hatten blanke Waffen in den Händen. Joukowskys pappene Kopie des Domes von Siena gerann zu kochenblankem Zement... die Bühne war länst kein Theater mehr, sondern eine nüchterne Industrieregion, Eisenbahnhzüge fuhren heran und spien immer neue Menschen aus, sie bewegten sich vorwärts, sie traten in die Halle, sie legten ihre Gepäckstücke ab, Kundry und Klingsor und Neumann und Fiedler und Benedikt Levi, sie waren Juden, sie gingen nackt, stumm, inständig voran..., sie traten an den Gral heran, der Gral war ein rot glühender Ofen, gemacht, das reine und heilige Blut zu bewahren, das schlechte und sündige Blut aber zu vernichten, die Erlösung war nahe, die Erlösung war der Tod, die Erlösung war der Tod aller Juden... Betroffen blickte Hermann Levi auf das Ende von seinesgleichen..., er riß den Mund auf, der sich alsbald füllte mit ätzendem Rauch. Auf, ihr Helden, sang der kranke Amfortas. Man befand sich immer noch im dritten Aufzug von Parsifal. Man war immer noch im Festspielhaus zu Bayreuth. Es war immer noch der 26.Juli 1882. Hermann Levi hatte für einen einzigen Augenblick... ein Unwohlsein gehabt, nichts weiter. Nichts weiter.“

Das ist peinlich und geschmacklos, so etwas darf man nicht schreiben. Darf man nicht? In einem Roman ist es möglich, nötig ist es auch - und außerdem wird wohl niemand behaupten wollen, daß für eines der beiden Themen, die hier zusammen verhandelt werden, die Kategorie des Geschmackvollen überhaupt greift. Die historische Kluft ist auch nich so groß, wie es scheint. Das beweist ein Aufsatz von Arnold Schönberg mit dem prophetischen Titel Was man nicht vergessen sollte. Er handelt von Wagners Antisemitismus, von den Gerüchten, daß Wagner selbst jüdsischer Abkunft sei, und von seinem Bündnis „mit dem Pogromisten Hitler... Ja, was erhoffte er sich von dessen Pogroms: daß seine jüdischen Ahnen umgebracht würden? Oder was sonst?“

Schönberg hat das geschrieben erst oder vielmehr schon im Jahre 1931.

Rolf Schneider: „Die Reise zu Richard Wagner“, Paul Zsolnay -Verlag, Wien/Darmstadt 1989, 224 Seiten, 29,80 Mark