Anarchie im Peloton

Greg LeMond wurde sensationell Sieger der Tour de France  ■  PRESS-SCHLAG

Wäre Jacques Anquetil, der als kühlster Rechner aller Zeiten in die Annalen des Radsports einging, noch am Leben, er hätte an Greg LeMond seine helle Freude gehabt. Anquetil, der fünfmal die Tour de France gewann, wußte immer ganz genau, wieviele Sekunden er benötigte und wo er sie herbekam, eine solche Maßarbeit jedoch, wie sie der Mann aus Boulder, Colorado, bei dieser Tour vollbrachte, war selbst ihm nicht gelungen. „Wenn ich vor dem letzten Zeitfahren in Paris eine Minute Rückstand auf den Spitzenreiter hätte, würde ich es noch schaffen“, hatte LeMond schon vor den Alpen gesagt. Als er durch das Ziel auf den Champs-Elysees rauschte, waren es genau 58 Sekunden, die er gegenüber dem bis dahin führenden Laurent Fignon aufgeholt hatte, acht Sekunden mehr, als er benötigte. Damit hatte LeMond die Tour mit dem knappsten Vorsprung gewonnen, den es je gegeben hat. Der Ire Stephen Roche hatte vor zwei Jahren immerhin noch vierzig Sekunden Abstand zum zweitplazierten Delgado herausgefahren (keineswegs vier, wie wir am Freitag per Druckfehler behaupteten).

Mit seinem diesjährigen Triumph blieb Greg LeMond seiner Rolle als Enfant terrible der Tour auch nach der von einer Schrotladung, die ihm sein Schwager bei der Hasengjagd verpaßte, verursachten zweijährigen Zwangspause treu. 1985 und 1986 machte er vor allem durch fragile Arrangements mit seinem damaligen Teamkollegen Bernard Hinault von sich reden. Der war 1985 eindeutig der Chef, fiel aber in St. Etienne auf die Nase und wurde zudem durch eine Bronchitis behindert. LeMond, nicht faul, verbündete sich in den Pyrenäen auf der Stelle mit den ärgsten Konkurrenten seines bretonischen Kapitäns und verschärfte perfide das Tempo.

Hinault konnte von Glück sagen, daß sich Pedro Delgado, der für ein anderes Team fuhr, seiner erbarmte und ihn den Anschluß zur Spitze halten ließ. Ein kräftiger Rüffel vom Rennstall-Boss Bernard Tapie, auch Besitzer des Fußballclubs Olympique Marseille, 500.000 Dollar und das Versprechen Hinaults, im folgenden Jahr ihm zum Sieg zu verhelfen, brachten LeMond schließlich zur Stallraison. Fortan verlangsamte er brav das Tempo, auf daß sein lädierter Leithammel folgen könne.

Im Jahr darauf lief es dann umgekehrt. Ein bitter erzürnter LeMond mußte mit ansehen, wie Hinault ihm davonfuhr, wo es nur ging. Nichts deutete daraufhin, daß der Bretone gewillt war, sein Versprechen zu halten und auf seinen sechsten Toursieg zu verzichten. Erst durch ein erneutes Machtwort und einige Handvoll Dollars konnte Tapie, der in den USA schon lukrative Werbeverträge für seinen Sieger in spe, Greg LeMond, abgeschlossen hatte, Hinault zum Einlenken bewegen. Hand in Hand fuhren die beiden Streithähne über die Ziellinie in L'Alpe d'Huez, der Pakt war besiegelt.

In diesem Jahr war der Amerikaner mangels einer funktionsfähigen Mannschaft auf sich allein gestellt, ähnlich wie Roche vor zwei Jahren. Doch während der Ire damals offensiv gefahren war, die Führung übernahm, Ausreißer verfolgte und attackierte, wie es sich für einen Träger des Gelben Trikots gehört, war LeMonds Taktik streng defensiv. Nie zeigte er Initiative, schaffte aber auch in den Bergen, was selbst Kletterspezialisten wie Herrera oder Millar mißlang: Fignon und Delgado auf den Fersen zu bleiben. Den Ausschlag für seinen Sieg gab die Tatsache, daß er im Flachland einfach der Schnellste war, und vor allem jede Menge Glück.

Zuerst vergeudete Delgado entscheidende Minuten auf den ersten Etappen, dann schenkten alle seinen Beteuerungen Glauben, daß er viel zu schwach sei, um dieses Jahr zu gewinnen, und griffen ihn nicht an. Schließlich hieß sein Hauptrivale Fignon, der nicht viele Freunde im Fahrerfeld hat. „Wenn Greg jetzt nicht wie ein Leader fährt, sich weiter an mein Hinterrad klemmt, und uns arbeiten läßt, um Ausreißer einzuholen, kann ich dafür sorgen daß er die Tour nicht gewinnt“, hatte Fignon gedroht. Ein Trugschluß. Der Franzose mit dem Zöpflein ist kein Hinault, der mit Argusaugen über die ungeschriebenen Gesetze des Radsports wachte, höchstpersönlich unbotmäßige Fahrer zur Raison brachte oder ihnen offen drohte, sie beim nächsten kleinen Kirmesrennen in den Graben zu fahren, wenn sie nicht parierten. „Patrons“ wie Merckx oder Hinault gab es nicht in diesem Jahr, es herrschte Anarchie im Peloton. Jeder fuhr für sich, selbst ein solch starkes Team wie PDM mit Kelly (Grünes Trikot), Rooks, Theunisse (Bergtrikot) und Alcala arbeitete nicht zusammen. Die Fahrer waren allenfalls bestrebt, einander nicht in die Quere zu kommen und fuhren ansonsten für die jeweils von ihnen angestrebten Trikots. Den Gesamtsieg hatten nur Fignon und Delgado im Auge.

Ideal für LeMond, fatal für Fignon. Der saß am Schluß ausgepumpt und deprimiert als Häufchen Elend im Ziel. Mehr als 9.000 Kilometer hatte er sich gequält, Bergriesen wie den Tourmalet, den Galibier oder den Izoard überwunden, fast neunzig Stunden auf dem Rad verbracht, eine Tortur, gegen die jene paar hochgejubelten Tennisstunden Boris Beckers wie ein gemächlicher Sonntagsspaziergang anmuten. Und am Schluß fehlten ihm winzige acht Sekunden. Greg LeMond sollte zusehen, daß er Fignon nie auf der Hasenjagd begegnet.

Matti