Null und nichtig

Jahrzehntelang gab es für Moskau gar kein Hitler-Stalinsches Geheimprotokoll, dann kam eine sowjetische Delegation nach Bonn und schleppte Fotokopien ab, letzte Woche das erste halbamtliche Eingeständnis der Stalinschen Untat, und jetzt kann es gar nicht schnell genug gehen: Kaum noch jemand zweifelt daran, daß die sowjetische Regierung der Empfehlung einer Kommission unter Leitung des Vertrauten Gorbatschows und Politbüromitglieds Jakowlew folgen und den Geheimpakt offiziell annullieren wird. Diese „Kommission zur politischen und rechtlichen Bewertung des deutsch -sowjetischen Nichtangriffspaktes von 1939“ hatte der sowjetische Volkskongreß auf Antrag der Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland eingesetzt.

Das geheimgehaltene Zusatzprotokoll diente der Abgrenzung zwischen den Einflußsphären Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion. Es führte nach dem deutschen Angriff auf Polen zur Teilung dieses Landes und zur Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR.

Der frühere Bonner Sowjetbotschafter Victor Falin , heute Chef der Abteilung internationale Angelegenheiten des Zentralkomitees der KPDSU, hatte erstmals in einer Fernsehsendung am vergangenen Sonntag eingeräumt, daß es ein solches Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt gibt. In der Regierungszeitung 'Iswestija‘ hatte Wochen zuvor der Mitarbeiter des Instituts für Philosophie, Soziologie und Recht (Tartu), Igor Grajzin, aus dem mutmaßlichen Zusatzprotokoll zitiert. Darin heißt es unter anderem: „23. August 1939, Moskau. Punkt eins. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR.“ Aus Kreisen, die der Kommission nahestehen, wurde bekannt, die Untersuchungen hätten zu der Schlußfolgerung geführt, daß der Nichtangriffspakt geheime Zusatzprotokolle enthalten haben müsse. „Obwohl die Originale dieser Protokolle weder in sowjetischen noch in ausländischen Archiven gefunden wurden, bleibt anzuerkennen, daß der Text der Kopien glaubwürdig ist.“ Sie empfiehlt, so heißt es, das Geheimprotokoll vom Moment der Unterzeichnung an für „ungültig und juristisch nicht haltbar“ zu erklären.

Die Kommission stelle weiter fest, die Verhandlungen über die Zusatzprotokolle seien vor dem sowjetischen Volk, dem Zentralkomitee der KPdSU und dem Obersten Sowjet geheimgehalten worden, der Vertragsabschluß habe daher „auf keine Weise“ den Willen des sowjetischen Volks widergespiegelt. Die Abgrenzung der Interessensphären habe völkerrechtlich im Gegensatz zur Souveränität einer Reihe anderer Länder gestanden. Zu dieser Zeit seien die Beziehungen der UdSSR zu Litauen, Lettland und Estland mit einem System von Verträgen geregelt gewesen, die alle Beteiligten verpflichtet hätten, „unter allen Umständen die Souveränität, territoriale Ganzheit und Unversehrtheit“ des jeweils anderen zu achten. Das Gremium habe dem Volkskongreß empfohlen, den Hitler-Stalin-Pakt „vom Augenblick des deutschen Angriffs auf die UdSSR an“ zu annullieren. Allgemein wird damit gerechnet, daß die Empfehlungen der Kommission von der sowjetischen Regierung angenommen werden und zum 23. August, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung, veröffentlicht werden sollen. Formell soll, so heißt es aus Kreisen der Kommission, auch der Volkskongreß in seiner Herbstsitzung die Geheimprotokolle für ungültig erklären. Gleichzeitig soll er den zwischen der UdSSR und Deutschland geschlossenen Vertrag über gegenseitigen Nichtangriff und Freundschaft „vom Augenblick des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941“ an - also nicht, wie das Geheimprotokoll, von der Unterzeichnung an - annullieren.

wg