: Meuterer im Paradies
■ Pitcairn liegt hinter uns - zurück vom Dunst verpackt, dann hinter der Erdkrümmung versunken. Die Erinnerungen jedoch sind noch frisch. Sowohl an diese Insel, die zumindest in der engeren Wahl gestanden haben...
Johann Bernhardt MEUTERER IM PARADIES
Pitcairn liegt hinter uns - zunächst vom Dunst verpackt, dann hinter der Erdkrümmung versunken. Die Erinnerungen jedoch sind noch frisch. Sowohl an diese Insel, die zumindest in der engeren Wahl gestanden haben muß, als Gott sich für einen Ort als Paradies entschied.
Als ich hoch oben auf dem höchsten Punkt der Insel ankomme, wünsche ich mir einen Schattenplatz, von dem aus ich die Insel übersehen kann. Die Sonne ist erbarmungslos in dieser frühen Nachmittagszeit, die Erde ist aufgeheizt. Backofen ist das Stichwort, das der Situation am nächsten kommt. Der Platz, den ich finde, übertrifft meine Erwartungen: 50 Meter vom Pfad entfernt steht ein einzelner Baum mit dichtem Blattbewuchs. Eine Hälfte ist so beschnitten, daß ich darunter stehen kann. Ein Ast ist in horizontaler Lage entzweigt und entblättert, wodurch er sich zum Aufstützen in stehender Position eignet. Ein natürliches Geländer vor einem natürlichen Balkon. Die Lage des Astes ist so gewählt, daß die Blickrichtung beim Aufstützen über die Breite der Insel zeigt, Adamstown als dichte Parkanlage erkennbar ist und die Weite des Ozeans den endlosen Rahmen für diese Szenerie abgibt.
Die Situation ist atemberaubend: hohe, steile Felswände, teils nackt, teils mit Wildwuchs bedeckt, fallen ins Meer oder bilden natürliche Barrieren auf der Insel. Gelb und rot leuchtende Abhänge, bedeckt mit fruchtbarer Erde, grüne Wiesen. Enger, undurchdringlicher Busch schmiegt sich an wellenförmige Hangformationen und gibt ihnen den Anschein von Wogen im Wind. Kokos- und Bananenplantagen umgarnen das Dorf, von dem einige Dächer der vielleicht 40 Häuser durch den dichten grünen Schirm leuchten.
In der Bucht vor der Küste wiegt sich die M.V. Greenpeace, geschmückt mit den Regenborgenfarben auf schwarzem Grund. Ich sehe Bounty Bay, „the landing“, die den Bewohnern wegen ihrer Ungeschütztheit immer wieder Probleme bereitet, wenn nicht gar Katastrophen erzwingt. Unweit der „Landung“ die rauhe Felsenküste, vor der einst die Bounty ankerte. Meuterei auf der Bounty
Ich muß so um die 13 gewesen sein, als ich die Geschichte von der Meuterei auf der Bounty las. Davon ist nicht viel hängengeblieben. Aber das, was ich mir vergegenwärtigen kann, erscheint nun um so deutlicher vor meinem geistigen Auge:
Nach langer Irrfahrt durch den südlichen Pazifik, nach Hoffnungslosigkeit und sich ausbreitendem Unmut erscheint eine Insel am Horizont. Ein Gottesgeschenk. Hoffnung breitet sich aus unter den Meuterern und ihren tahitischen Gefährten, daß die Insel unbewohnt, aber bewohnbar sei. Unterschwellige Angst schiebt sich dazwischen, daß sie auch nur eins von beiden nicht sein würde und die Odyssee weitergehen würde mit unabsehbaren Folgen für die Moral auf dem Schiff.
Ich sehe deutlich, wie ich mir die Insel in meiner Kindheit vorstellte. Urwaldähnlich dicht bewachsen, undurchdringlich steile Aufstiege. Fletcher Christian und einige andere besteigen und erkunden sie. Je weiter sie vordringen, desto mehr weicht die Angst. Je mehr die Körper ermüden, desto mehr Leben durchdringt die Gemüter. Denn es wird deutlich, daß ein Leben auf dieser Insel nicht nur möglich ist, sondern dies auch noch unter günstigen Bedingungen: guter fruchtbarer Boden, Frischwasserquellen, Obstbäume allenthalben und subtropisches Klima. Und dazu: Sie ist unbewohnt. Ich sehe Fletchers strahlendes Gesicht, als er zur Bounty zurückkehrt, die schöne Mauhatea in seine Arme nimmt, sie vor Freude in die Luft hebt und allen die Botschaft verkündet, daß das neue aufgezwungene Leben in der Verbannung sich zumimdest unter paradiesischen Bedingungen abspielen wird. Und dann gehen sie alle an Land...
Damit erlischt meine Erinnerung. Das Ganze spielte sich für mich im Reich der Sagen und Märchen ab. Eine wahre Geschichte? Vielleicht. Aber die Zutaten rochen doch eher nach Abenteuerroman, gerade mal dazu geeignet, meine Jugendträume von Reisen, Gefahren und romantischer Liebe anzuregen.
Und dies soll nun dieselbe Insel sein? Die sagenhafte Geschichte soll sich hier an diesem Ort abgespielt haben? Auf der einen Seite fasziniert mich der Gedanke, daß es mir gelungen ist, an diesen entlegenen Ort zu gelangen, die sagenumwobene Kulisse des Romans aufgespürt zu haben. Auf der anderen Seite kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich mit meinem „Eindringen“ dem Abenteuerroman ein Stück seiner Faszination genommen habe. Was sagenhaft war, ist plötzlich leibhaftig geworden. Was durch seine Märchenhaftigkeit verzauberte, scheint nun durch Realität banalisiert. Mein Stolz, einen Markstein der Geschichte aufgespürt zu haben, bezahle ich nun mit dem Verlust eines Jugendtraumbildes. In dem Maße, wie ich die wirkliche Insel erfasse, entschwindet die erträumte aus meiner Vorstellung. So stehe ich da mit gemischten Gefühlen: Genieße den sich vor mir ausbreitenden Traum eines Paradieses und trauere um den verlorengegangenen paradiesischen Traum. Traum und Wirklichkeit
Und die Menschen hier? Da verhält es sich nicht anders. Fletcher Christian lebte in meiner Erinnerung als der große Held, der mutige Meuterer mit dem weiten Herz, das er ganz seiner zauberhaften Geliebten aus dem Südseeparadies Tahiti öffnete. Zwar gebar ihre Liebe zwei Söhne und eine Tochter, ein Happy-End war ihnen dennoch nicht beschieden. Fletcher soll nach drei Jahren auf der Insel hinterrücks ermordet worden sein. Diese Tragik ist es jedoch, die ihm ein Abheben ins Reich der unsterblichen Märchenhelden gestattet. Und hier nun laufen die Nachkommen der vermeintlichen Helden als einfache, normale Menschen herum. Tom Christian ist der Funker auf dieser Insel. Er hält den Kontakt zur Außenwelt aufrecht. Warren Christian produziert holzgeschnitzte Haie und Vögel. Er ist ein alter Mann und allergisch gegen den abgeschmirgelten Staub. Das ist jedoch kein Grund für ihn, den Beruf aufzugeben, wie er mir versichert. Und da sind noch mehr Christians. Ich suche in den Gesichtern. Unbewußt, denn ich weiß eigentlich nicht, was ich suche. Ist es das Traumbild eines mutigen Meuterers und seiner schönen Frau, das ich in den Gesichtern „herübergerettet“ finden möchte? Es will nicht gelingen.
Pitcairn wird zuweilen als die abgelegenste Insel der Welt bezeichnet. Tatsächlich gibt es keine dauerhafte Siedlung, die weiter entfernt von ihrem Nachbardorf wäre. Diese Siedlung liegt nun, geschützt unter Palmen, Bananen-, Mango und Brotfruchtbäumen, einladend in meinem Blickfeld. Die Hitze sowie der Mangel an Flüssigkeit treiben mich fort von meinem „Balkon“ und hinunter in die Oase Adamstown.
Als ich durch Warren Christians Haus gehe, werde ich das unterschwellige Gefühl nicht los, daß hier irgendetwas fehlt. Und zwar hat das nichts zu tun mit Komfort und Einrichtungsgegenständen. Plötzlich dringt es in mein Bewußtsein: Üblicherweise ist es die klare Begrenzung eines Hauses durch Außenwände und Türen, die dem Haus erst den Charakter eines Schutzraumes gibt. Hier ist alles offen. Außen- und Innenräume gehen ineinander über. Nicht die Wände allein geben hier den Schutz, sondern nur im Zusammenhang mit den von außen an den Baukörper herandrängenden Bäumen und Büschen stellt sich so etwas wie ein geschlossener Raum her. Keine Türen, die ich hinter mir schließen könnte. Da fällt mir ein, daß ich in diesem Haus die Nacht verbringen werde. Vielleicht sollte ich mich vorsichtshalber erkundigen, welche Tiere auf der Insel leben. Deren Besuch während der Nacht scheint ebenso einkalkuliert wie akzeptiert zu sein.
Was in unserer zivilisierten Welt erst in neuester Zeit wissenschaftlich entwickelt wurde, nachdem der Mangel an ökologischem Bewußtsein bei der Bauplanung immer deutlicher wurde, hat sich an diesem abgelegenen Ort auf natürliche, ungeplante Weise herausgebildet: die Disziplin der Permakultur. Der Gedanke an die Einbeziehung der Natur in den menschlichen Wohnbereich hat sich nun auch bei uns als attraktiv und der allgemeinen geistigen und körperlichen Hygiene förderlich in das Bewußtsein mancher Architekten und sonstiger Planer eingeschlichen. Die Pitcairner wären ungläubig erstaunt, erzählte man ihnen, daß sie in dieser Hinsicht dem Rest der Welt weit voraus sind. Die globale Sicht der vorgefundenen Situation wird jedoch schnell wieder verdrängt von den konkreten Auswirkungen, die diese Situation auf meine Nachtruhe haben könnte.
Und tatsächlich: Gegen vier Uhr früh werde ich geweckt durch ein knackendes Geräusch. Rascheln entlang der Wand, Gezirpse irgendwo im Hintergrund und schnelles Trippeln über den Fußboden machen mich sofort hellwach. Der aktivierte Adrenalinspiegel garantiert auch zur Nachtzeit schnelle Reaktionen. Die erste: der Griff zur Taschenlampe und die sofortige Erleuchtung des Raumes. Läßt das die Besucher kalt, oder werden sie durch unverhoffte Lebenszeichen verschreckt und vertrieben? Schnell wird mir deutlich, daß es hier kein Vertreiben gibt. Dieser Wohnraum ist Lebensraum für mehr als nur Menschen. Die Unruhestifter sind hier ebenfalls zu Hause. Diese Erkenntnis hat leider keinen beruhigenden Effekt auf mich. Unter körperlicher Anspannung und jederzeit zur Verteidigung meines Bettes bereit (wenn auch hoffend, daß das nicht notwendig sein möge), bleibe ich bis zum Morgen auf Wachposten. Entspannung kommt erst auf, als im Haus wieder menschliche Geräusche auf den anbrechenden Tag hindeuten.
Beim Frühstück kann ich Warren wieder ganz gelassen zuhören, als er mir über das alltägliche Leben auf Pitcairn erzählt. Dabei erfahre ich, daß die Isolation auch wundersame Blüten treibt. Warren, dem das alles natürlich erscheint, wundert sich hier und da über meine unerwarteten Reaktionen. Aus der Fülle der neuen Informationen bleiben zwei Aspekte als erinnerungswürdig in meinem Bewußtsein: das Verhältnis der Insulaner untereinander und das zum Geld. Geld und Familie
Es hat nie Geld als Mittel zum Warentausch auf der Insel gegeben. Auch nach 200 Jahren existiert Geld nur im gelegentlichen Austausch mit der Außenwelt. Essen, Wohnung, Kleidung werden von den Menschen selbst hergestellt. Man hilft sich gegenseitig, ohne Vergütung zu erhalten. Nur die Anschaffung und Unterhaltung beispielsweise eines Motor -Scooters oder eines Kühlschrankes erfordert Geld, das im wesentlichen durch den Verkauf von handgearbeiteten Produkten wie Schnitzereien und Bastkörben hereinkommt. Die „Original-Handarbeiten von den Nachfahren der Meuterer von der Bounty, mit Namenszug“ finden auf den vorbeikommenden Schiffen reißenden Absatz. Im Gegensatz zu ähnlichen Situationen in abgelegenen Gegenden, die vom Tourismus mehr und mehr erschlossen werden, hat sich das „Geldfieber“ hier scheinbar noch nicht durchgesetzt. Die Produkte werden zu einem Dollarpreis angeboten. Ob der Besucher in US-, Australien- oder Neuseeland-Dollars bezahlt, darauf kommt es nicht so an. Manche Gegenstände wechseln auch ohne Bezahlung den Besitzer. Wer auf die Insel kommt, wird überall zum Essen und zur Übernachtung eingeladen. Finanzielle Vergütung dafür ist undenkbar. Besucher und Schiffe stellen die Verbindung zur Außenwelt dar. Sie werden immer mal wieder gebraucht für Waren- und Menschentransport. Daher werden Besucher grundsätzlich als Freunde betrachtet. Was die Insulaner wirklich brauchen, haben sie. Scheinbare Bedürfnisse werden durch fehlende Werbung und ohne TV gar nicht erst geweckt.
Völlig überrascht bin ich, als Warren mir über die Beziehungen der etwa 15 verbliebenen Familien untereinander erzählt. Im Jahre 1856 wanderten alle 156 Bewohner Pitcairns nach Norfolk Island bei Australien aus, wo angeblich bessere Überlebens- und Entwiclungsbedingungen herrschen sollten. Vom Heimweh gepackt kehrten zwei Jahre später die Familie Young und dann die Christians nach Pitcairn zurück. Im Laufe der Zeit kamen einige wenige Familien von außen hinzu, die den sonst unvermeidlichen Inzucht-Effekt abzumildern halfen. Dennoch: Es gibt keinen Zweifel daran, daß die heute acht Christian-Familien alle von Fletcher und seinen zwei Söhnen abstammen und die vier Young-Familien von dem Mit-Meuterer Edward Young. Darüber hinaus war der Kern der neuen Familienstammbäume im Jahre 1858 sehr begrenzt, so daß es keinerlei Phantasie bedarf, um familiäre Beziehungen zwischen allen hier lebenden Menschen herzustellen. Dennoch
-oder gerade deswegen? Wer nicht gerade eine Eltern-Kind oder Geschwister-Beziehung nachweisen kann, betrachtet sich auf dieser Insel als nicht miteinander verwandt. Warren Christian will nicht mit Tom Christian, und dieser unter keinen Umständen mit Ivan Christian in Verbindung gebracht werden. Das sind jeweils fremde Leute. Psychologischer Schutz, um Heiraten ruhigen Gewissens verantworten zu können? Besondere Beziehungen schaffen besondere Verhaltensweisen, die von Außenstehenden schwer vorstellbar sind, bevor sie ins Bewußtsein gebracht werden.
Als dann auf der Rückfahrt zum Schiff Tanya Christian mir auf dem Langboot gegenübersitzt, schleicht sich plötzlich doch wieder die Versuchung ein, die Nachfahren in Verbindung mit den Meuterern und ihren schönen Südseefrauen zu bringen. Die Exotik, wie sie aus der Mischung verschiedener Rassen entstehen kann, in Verbindung mit der ursprünglichen Schönheit der Mauhatea scheint nun doch durch die Jahrhunderte auf die kleine Tanya „herübergerettet“ worden zu sein.
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