Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek

■ Eine Buchreihe wird vorgestellt

Seit Anfang vergangenen Jahres erscheint im Verlag Klaus Wagenbach eine Buchreihe mit dem Titel Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek. Die Anspielung auf das Warburgsche Programm ist deutlich. Die polemische Pointe des Unternehmens ebenso. Nach Jahrzehnten aufgeregter Politik, nach Soziologie und Klassenkampf wieder der Griff zu den Themen, mit denen die älteren Wagenbachleser vor der Revolte sich beschäftigt hatten.

Da sind fünf Aufsätze des Wissenschaftshistorikers Alexandre Koyre über Galilei. Klassische Arbeiten, deren früheste schon 1943 im französischen Original erschienen. Bis heute aber waren sie in deutsch nicht zugänglich. Einer der interessantesten Bände der Reihe ist Aby Warburgs Reisebericht Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. Der Erforscher der Grazientänze auf den Bildern der italienischen Renaissance besuchte Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Puebloindianer und untersuchte ihren Schlangentanz. Ulrich Raulff, der Herausgeber der Buchreihe, hat Warburgs Vortrag über diese Visite aufgestöbert und zugänglich gemacht. Der Zusammenhang von Warburgscher Kunstbetrachtung und Ethnologie wird hier so klar wie nirgends sonst. Arnaldo Momiglianos Aufsätze zur Geschichte des antiken Judentums sind gelehrte Abhandlungen, die ursprünglich in den entsprechenden Periodika - zum Beispiel 'Rendiconti Accademia dei Lincei‘ - veröffentlicht wurden. Ihnen beigegeben ein kleiner, sehr persönlicher, sehr bewegender Aufsatz Die Juden in Italien.

Die Themen mögen ein Rückgriff sein. Die Art, wie sie angegangen werden, manchmal auch. Im Guten wie im Bösen. Ein katastrophaler Abfall von der sonst so sicheren Höhe dieser Reihe ist Castelnuovos Das künstlerische Porträt in der Gesellschaft. Wer glaubt, er könne sich hier auf hundert Seiten über die Entwicklung der italienischen Porträtmalerei vom 13. bis zum 18. Jahrhundert informieren, wird bitter enttäuscht. Castelnuovo verbreitet finstersten Provinzialismus, der darum, weil er aus Italien kommt, nicht weniger barbarisch ist. „Der aus Lucca gebürtige Pompeo Batoni“, schreibt Castelnuovo, „vermochte in Rom ein Portrait zu schaffen, das von den gemeinhin benutzten Schemata abwich.“ Batoni habe, nach der theoretischen Vorarbeit Shaftesburys, einen neuen Bildtypus geschaffen, der vor allem die durchreisenden englischen Gentlemen begeisterte. Wer es nicht schon wußte, dem sagen es die Abbildungen: Es war weniger der vage Shaftesbury als die sehr realen Gainsborough und Reynolds, die Batonis Porträts prägten. Die von Castelnuovo hervorgehobene Differenz Lucca Rom erklärt nicht halb soviel wie ein Blick auf die von ihm nicht genannten englischen Vorbilder Batonis. Aber vergessen wir diesen dunklen Fleck auf der sonst so schönen Reihe.

Wie klar man denken und schreiben kann, führt W. Montgomery Watt vor. Sein Abriß der Geschichte des Einflusses des Islam auf das europäische Mittelalter ist ein Meisterstück. Ein Gelehrter, 1909 geboren, hat die dicken Bücher beiseite gelegt, die Sekundärliteratur aus seinem Kopf verbannt und zum Thema gesprochen. Frei, ohne Fußnoten, ohne Kotau und ohne Kautelen. Herausgekommen ist ein Buch, das Hunger macht auf tausend Details dieser Geschichte und doch das Entscheidende schon tut: Es kuriert uns von unserer Überheblichkeit. Da ist kein Lebensbereich, in dem Europa nicht durch Importe aus der islamischen Kultur sich hat verbessern können. Von der Körperhygiene über die Logik bis zur Astronomie. Ein lehrreiches Buch. Stärke liegt nicht in der Abwehr, sondern in der Einverleibung.

Kulturwissenschaft ist das Gegenteil von Gesellschaftstheorie. Sie fragt nicht, wie eine Gesellschaft funktioniert, sondern sie beschreibt, wie einzelne und Einzelnes in der Gesellschaft funktionieren. Sie tut das nicht aus Fachidiotismus, sondern weil sie weiß, daß Probleme sich frontal nicht lösen lassen. Der unmittelbare Zugriff aufs Ganze geht notwendig ins Leere. Das Ganze ist nicht unmittelbar, jedenfalls nicht unmittelbar zugänglich. Es müssen Stichbohrungen, Schrägschnitte und Laufgräben gezogen werden, die immer nur einzelne Ansichten vermitteln. Die aber sind immer realitätshaltiger als die schönste Ansicht des Ganzen, die die Theorie bietet. Eine Zeit der Unsicherheit, des Hungers nach Wirklichkeit, ist eine Zeit der Kulturwissenschaft. Die Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek ist die Fortsetzung der politisch-historisch orientierten Reihe Wagenbachs Taschenbücherei für die (wieder) skeptisch gewordenen Leser.

Sie sind älter geworden, haben weniger Zeit. Knappe zwei Stunden brauchen sie für jedes der Bändchen. Es sind keine schwierigen Werke, keine dickleibigen Wälzer, die mit Bleistift und Notizblock bewältigt werden wollen, sondern kleine, manchmal enorm wirkungskräftige Spritzen für den langsam ermüdenden Denkhaushalt. Wer glaubt, sein bißchen Lateinunterricht vor zwanzig Jahren habe ihn mit allem versorgt, was er wissen muß, der wird von dieser irrigen Ansicht nach einer halben Stunde mit Peter Burkes Küchenlatein kuriert sein.

Man liest die Bändchen im Cafe, auf der Couch oder - wie ich - im Schwimmbad. Ein müßiggängerisches Lesen. Zunächst lenken die zwei Frauen vorne auf der Decke mich von der Lektüre ab. Spielend gewinnen sie gegen die Einleitung. Wie sie sich nach der Sonne wenden, wie sie das Haar feststecken, ich weiß es besser als ich je diese ersten Seiten referieren könnte, dann aber packt Pomian zu. Ungläubig blinzele ich: Wann habe ich das letzte Mal so selbstverständlich von Tausch- und Gebrauchswert reden hören wie hier im Ursprung des Museums? Die kleine Irritation, daß er die Begriffe anders als die Marxsche Orthodoxie verwendet, zwingt zum genauen Lesen. Dann kommen die Kapitel über „Grabbeigaben“ und „Opfergaben“, „Gaben und Beute“, „Reliquien und sakrale Gegenstände“. Kleine Erzählungen mit reizvollen Anekdoten - „Pausanias beschreibt eine Menge Reliquien, so den Lehm, aus dem Prometheus den ersten Mann und die erste Frau geknetet hatte, den Stein, den Kronos statt seines Sohnes verschlang...“ - und dann nicht ganz unvorbereitet, aber doch überraschend die Schlußfolgerungen: das Sichtbare und das Unsichtbare. Gesammelt wird, so Pomians Quintessenz, was das Unsichtbare repräsentiert, Gegenstände also, die das Unsichtbare darstellen. Götterbilder sind nur frühe, krasse Exempel. Das Museum, die private Sammlung wollen die Aura sichtbar machen oder doch das zeigen, woran andere die Aura haben leuchten sehen. Bei Grabbeigaben wird das, worum es geht, überdeutlich: „Wenn die Gegenstände den Göttern oder Toten geweiht sind, ist es nicht erforderlich, sie den Blicken der Menschen auszusetzen. Das gilt auch für Grabbeigaben: und Opfergaben müssen nur in manchen Gesellschaften sichtbar sein... auch die Bewohner des Jenseits betrachten die Gegenstände, und sie sehen sie auch, wenn die Irdischen dazu nicht in der Lage sind.“ Es scheint gerade nicht um die menschlichen Blicke zu gehen. Das vielstrapazierte „interesselose Wohlgefallen“ ist der Blick auf die Gegenstände mit dem Auge Gottes. Pomian schreibt das nicht, aber er legt diesen Gedanken nahe. Kein museumspädagogischer Dienst kann dem Betrachter seinen eigenen, irdischen Blick abnehmen, aber die Gegenstände der Sammlung erschließen sich nicht dem verwertungsorientierten Blick. Gesammelt werden unnütze Gegenstände. In Sammlungen wird Sichtbares gezeigt, das ans Unsichtbare erinnert. Pomian meint das nicht nur theologisch, sondern auch archäologisch und exotisch. Unsichtbar sind auch das Ferne und das Vergangene.

Die Gesellschaft pflegt ihre Sammlungen, und sie pflegt das Reden über sie. Pomian schreibt: „Wenn man Gegenständen, die aus der Vergangenheit, aus anderen Gesellschaften oder der Natur kommen, einen bedeutenden Wert zuschreibt, legitimiert man damit die Beschäftigung der Menschen, die solche Gegenstände suchen, sammeln, konservieren und erforschen. So gesehen erscheint das Museum als eine Institution, deren Funktion darin besteht, einen Konsens zu schaffen über eine bestimmte Form, das Sichtbare dem Unsichtbaren entgegenzusetzen, die sich gegen Ende des 14. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, das heißt einen Konsens über neue Hierarchien; in ihnen wird dann die privilegierte Position legitimiert durch eine privilegierte Beziehung zum neuen Unsichtbaren. In anderen Worten: die Museen lösen die Kirchen ab als Orte, an denen alle Mitglieder einer Gesellschaft in der Feier desselben Kults kommunizieren können.“

Nun sind wir doch dabei, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie eine Gesellschaft funktioniert. Aber der Kulturwissenschaftler Pomian ist einen Umweg gegangen. Man stelle sich vor, was Soziologen aus Pomians schönem Gang durch die Labyrinthe der Vergangenheit machen werden. Oder weniger begabte Fachkollegen.

A.W.