Dialog mit dem Mördervolk

■ Die Bundesrepublik in den Augen polnischer Intellektueller: Historikerstreit, Entspannungspolitik, historisches Bewußtsein

Klaus Bachmann

Bereits im Juni 1945 begannen in Polen die Vorbereitungen zur „Landesweiten Antideutschen Ausstellung“, die vom „Polnischen Westbund“ organisiert wurde, zusammen mit dem Bildungs- und Propagandaministerium. Die Ausstellung sollte aufzeigen, daß der Krieg „der Epilog des seit Jahrhunderten dauernden Kampfes zwischen Germanentum und Slawentum“ war und „den deutschen Imperialismus ein für alle mal zerschlagen“ hatte. Die Deutschen, so behaupteten die Veranstalter, seien stets die gleichen gewesen; Hitlers Vernichtungsfeldzug in Polen sei lediglich der Ausbruch von in 1.000 Jahren Polenfeindschaft angesammeltem Haß gewesen.

Obwohl die Ausstellung zugleich zum Ziel hatte, Polens Stellung bei der erwarteten Friedenskonferenz zu stärken, war die Ansicht, der Zweite Weltkrieg habe im Grunde das deutsche Wesen bloßgelegt, keine Propagandaerfindung der Regierung. Die Theorie von den Deutschen als „Volk von geborenen Mördern“ war auch in der öffentlichen Meinung, die damals noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Verbrechen im „Generalgouvernement“ und den „angegliederten Gebieten“ stand, weit verbreitet. Blut und Erde

So einfach die Erklärung war, so weit verbreitet war sie, schien sie doch imstande, das Unfaßbare der deutschen Verbrechen in Polen verständlich zu machen. Selbst in weiten Teilen der Presse, die damals noch nicht der stalinistischen Zensur untergeordnet war, wurden die Begriffe „Nazi“ (Hitlerowiec) und Deutscher als Synonyme verwandt, eine Ausnahme machten dabei nur einige linksgerichtete Zeitschriften. Die „Kommission zur Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen“, die bis heute besteht, hieß anfänglich denn auch „Kommission zur Erforschung deutscher Verbrechen“. „Ich schwöre der polnischen Erde und dem polnischen Volke, daß ich bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Atemzug den deutschen Feind, der Polen zugrundegerichtet hat, hassen werde“ - mit diesen Worten wurden die Soldaten der 1.Koscziuszko-Infanteriedivision vereidigt.

Die Frage, ob es „gute Deutsche“ gebe oder gegeben habe, stellten sich wenige, und dann nur, um die Antwort „ein guter Deutscher ist ein toter Deutscher“ geben zu können, schrieb Edmund Dimitrow in seiner Untersuchung über das Deutschenbild der Polen nach dem Krieg. Einer jener wenigen, denen es gelang, sich von solcherlei emotionalen Wertungen zu befreien, war der Journalist Edmund Osmanczyk, der damals Kriegsberichterstatter war. Er stellte als einer der ersten die These vom „Mördervolk“ in Frage: Jeder Deutsche sei zunächst ein Mensch, und das deutsche Volk sei nicht immer ein Volk von Henkern gewesen. Den Grund für die Barbarisierung der Deutschen sah er vor allem in deren „Preußifizierung“. Der Prozeß der moralischen Verwahrlosung habe lange vor Hitler begonnen, 200 Jahre Preußen hätten den moralischen Verstand der Deutschen getrübt und ihnen den Rassenhaß eingeimpft.

So weit verbreitet diese These in Polen bald war, so sehr war sie doch ein Vorurteil, das mit den speziell polnischen Erfahrungen mit der preußischen Germanisierungspolitik zusammenhing. Vielen erschien die nationalsozialistische Ausrottungspolitik in Polen als eine Art Fortsetzung von Bismarcks Polenpolitik mit anderen Mitteln, so vereinfachend dies auch erscheinen mag. „Der Haß auf Polen“, brachte es Osmanczyk auf eine einfache Formel, „ist das unveränderliche Wesen der Preußen.“ Indem er quasi das Preußische im deutschen Volk für Hitler verantwortlich machte, befreite er die restlichen Deutschen in gewisser Weise von ihrer Schuld. Das Problem war nun nicht mehr die Niederhaltung des Deutschtums, sondern die Ausmerzung des Preußischen im deutschen Volk. Die These eröffnete die Möglichkeit einer weitergehenden Suche nach den Ursachen des Dritten Reiches, jenseits von Pauschalurteilen. „Man kann nicht einfach die Deutschen hassen“, befand bereits 1945 der Schriftsteller Jan Dobraczynski, „wer ein ganzes Volk haßt, haßt die Menschheit.“

Die neue Erkenntnis traf in der öffentlichen Meinung auf wenig Verständnis. Als Osmanczyk 1947 vor Mitarbeitern der Berliner Militärmission in einem Vortrag feststellte, jedes Volk sei zu faschistischen Verbrechen fähig, wenn nur Faschisten es beherrschten, fehlte nicht viel, und die Zuhörer hätten ihn aus dem Saal geprügelt. Arbeiten, arbeiten, arbeiten

Während sich Katholiken noch darüber stritten, ob der „gottlose Protestantismus“ die Deutschen zu Nazis gemacht habe oder ob der Nationalsozialismus aus „zwölf Jahrhunderten deutschen Polenhasses entsprungen“ sei, machte sich Osmanczyk bereits mit einem neuen, bis heute verbreiteten Deutschenbild daran, sich die Wut seiner Landsleute zuzuziehen. „Die Deutschen, egal in welcher Zone, schütteln ihre Schuld ab und machen sich mit Eifer daran, zu arbeiten, arbeiten und nochmal zu arbeiten“, schrieb er 1946. „Die Polen, ganz gleich ob im Land oder in der Emigration, schlagen sich mit der Linken an die Brust und zeigen mit der ausgestreckten Rechten auf die Schuldigen der anderen Völker und erschöpfen sich im Geschwätz über das Schicksal ihres Vaterlandes und der Welt und sind dabei halb so produktiv wie die Deutschen.“

Solcherlei Erkenntnisse konnten angesichts der allzu frischen Erinnerungen an die Okkupation nicht mit dem Verständnis der Bevölkerung rechnen. Der antideutsche Konsens war denn in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch allen politischen Kräften in Polen gemeinsam. Die neue Staatsmacht - bemüht, sich eine politische Legitimierung zu verschaffen - nutzte ihn denn auch, der Bevölkerung die neu entstandene Ordnung nahezubringen. Adam Rapacki, der spätere Außenminister, machte schon 1946 die antideutsche Karte zum Argument für das Bündnis mit der Sowjetunion. Nur die Sowjetunion garantiere die Westgrenze Polens, war bis zum Warschauer Vertrag 1970 ein Argument, das auch jenseits der Partei Überzeugungskraft besaß.

In dem Maße jedoch, wie die Staatsmacht die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung beschwor, um das Bündnis mit der UdSSR und die Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt zu rechtfertigen, in dem Maße regten sich in Polen auch Stimmen in der Opposition, die begannen, den Status quo in Frage zu stellen. Wenn die Deutschen die Wiedervereinigung wollen, so die Schlußfolgerung, dann sind sie logischerweise gegen den Status quo und damit gegen die Sowjetunion. Da wir Polen ebenfalls gegen den Status quo sind, der uns in Jalta aufgezwungen wurde, sind wir folglich die natürlichen Verbündeten der Deutschen und ebenso natürlich für die Wiedervereinigung.

„Der Status quo“, schreibt etwa der Publizist Jacek Maziarski in einem Artikel zum Thema Mitteleuropa, „schreibt die deutsche Teilung fest. Aber auch Jalta.“ Eine Politik, die nur auf die Verhinderung der Wiedervereinigung ausgerichtet ist, wäre folglich kurzsichtig, denn „über die deutsche Frage entscheiden allein die Deutschen“. Polen müsse Abschied nehmen von der Maxime „Je schlechter für die Deutschen, desto besser für uns“, denn: „Ein schwaches Deutschland kann Rußland nicht aufwiegen. Nur Deutschland hat genug Kapital und Energie sich für Mitteleuropa zu engagieren.“ Mitteleuropa mit Deutschland

Selbst jedoch, wenn ein solches gegen Jalta gerichtetes Projekt in Deutschland existierte, so würde es erstens niemand offen zugeben, und zum zweiten würden sich die Deutschen vor einem so schwachen Partner wie Polen hüten“, hielt Kazimierz Woycicki dem in einer Diskussion der konservativen Krakauer Untergrundzeitschrift 'Arka‘ letztes Jahr entgegen. „Aus der Sicht der Bundesrepublik befinden sich solche Äußerungen in verdächtiger Nachbarschaft zum Wortschatz der extremen Rechten“, gibt indessen Jacek Kubiak in der linksliberalen 'Krytyka‘ zu bedenken. Schließlich ist kaum anzunehmen, daß die polnischen Jalta-Gegner eine deutsche Wiedervereinigung des Ausmaßes akzeptieren, wie deutsche Jalta-Gegner sich dies vorstellen. Schlesien, Pommern, Danzig stehen für niemanden in Polen zur Debatte.

Doch wenn der deutsch-polnische Dialog an der Wiedervereinigung zu scheitern droht, bleibt die Angst vor der deutsch-sowjetischen Verständigung. „Die Deutschen öffnen sich nach Osten, die Sowjetunion nach dem Westen. Da ist es nicht schwer vorauszusehen, daß bald auch von uns die Rede sein wird“, fand Woycicki schon nach Kohls Moskaureise letztes Jahr. Tatsächlich sind die heftigen Reaktionen der Parteipresse auf Waigels Rede auf dem Schlesiertreffen auch eine Reaktion auf Gorbatschow in Bonn. Der Angst vor dem „Geist von Rapallo“ geben dann besonders unrühmliche Auftritte von SPD-Politikern in Polen noch Auftrieb, die den Eindruck erwecken, „Solidarnosc werde von ihnen als Gefahr für die Entspannung“ (Maziarski) angesehen.

Den Auftritten von Vertriebenenverbänden wird in der Opposition umso weniger Bedeutung beigemessen, je eher das Thema in der Propaganda hochgekocht wird. Wenn es von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken gelte, werde der deutsche Revanchismus beschworen, kommentierte die Wahlkampfzeitung die Angriffe der Regierungspresse auf Waigels Äußerungen. So seltsam es aus deutscher Sicht klingen mag: in der Opposition haben einige Auftritte bundesdeutscher Entspannungspolitiker dem deutschen Image mehr geschadet, als Ausfälle wildgewordener Berufsvertriebener.

„Natürlich gibt es die Vertriebenenverbände und antipolnische Tendenzen“, gibt Maziarski zu, „aber es wäre naiv, würden wir gerade in dieser politischen Marginalität das größte Problem sehen.“ „Aber auch wir Polen haben das Recht, von den Deutschen mehr Beweise für Empfindsamkeit und besseres Verständnis für unsere komplizierte Lage zu erwarten. Von allen westlichen Ländern war sich die BRD wenigstens des Grabens bewußt, der zwischen der offiziellen Politik der Staatsmacht und den Absichten der Gesellschaft verläuft. Politische Kreise der BRD gingen auch am weitesten im Demonstrieren von Zurückhaltung und sogar Unwillen gegenüber den Demokratie- und Freiheitswünschen der Polen, indem sie in ihnen nur eine Bedrohung ihres auf Regierungsebene geführten Dialogs sahen“, meint Maziarski. Und Kazimierz Woycicki: „Sowohl Gräfin Dönhoff wie auch Egon Bahr halten uns Oppositionelle in Osteuropa für zwar immerhin tapfere, aber ungezogene Bengel, die mit Gekreische in den Salon fallen und die Erwachsenen bei ihren wichtigen Gesprächen stören.“ Manche Äußerungen, etwa von Helmut Schmidt über Polens Opposition, findet Jacek Kubiak, könnten auch im 'Zolnierz Wolnosci‘ (Soldat der Freiheit), dem Armeeorgan und der Bastion der extremen Betonköpfe der Partei, stehen. Polen zum Historikerstreit

Einstweilen sei aber auch die deutsche Rechte kein glaubwürdiger Partner für Polen und Tschechen, urteilt Kubiak, und zwar nicht nur solcher Äußerungen wegen, wie der von Strauß, der vom „polnischen Chaos“ gesprochen habe. Kubiak begründet dies vor allem mit konservativen Stellungnahmen im Historikerstreit, der unter Polens Intellektuellen wie kein anderes Ereignis der letzten Jahre Beachtung gefunden hat. Die Londoner Exilzeitschrift 'Aneks‘ brachte die wichtigsten Beiträge des Historikerstreits in polnischer Übersetzung heraus, in der 'Res Publica‘ erschienen Zusammenfassungen und Kommentare von Kazimierz Woycicki, Wlodzimierz Borodziej und Tadeusz Cegielski.

Bedeutsam war dabei vor allem, daß sowohl die Noltesche Position als auch die Ansichen Habermas‘ aus polnischer Sicht kritisiert wurden. Allein Adam Michnik brachte es zuwege, Nolte und Habermas zugleich zuzustimmen, allerdings nur mit Hilfe eines uneingestandenen Denkfehlers.

„Ich teile die Furcht von Habermas“, schrieb er in der 'Krytyka‘, „vor dem Verwischen des Schuldgefühls der moralischen Verantwortung der Deutschen für den Holocaust, ein Verwischen, das in Formulierungen zutage tritt wie denen, daß die nationalsozialistische Massenvernichtung an Einmaligkeit verliert vor dem Hintergrund des stalinistischen Gulag.“ Andererseits habe auch Nolte recht, wenn er vorschlage, den roten und braunen Totalitarismus zu vergleichen: „Der Gulag kann keine Rechtfertigung für Auschwitz sein, aber auch Auschwitz kann keine Rechtfertigung dafür sein, auf Leute, die die Berliner Mauer überklettern, zu schießen. Daß Habermas sich nicht mit dem deutschen Totalitarismus in der DDR befaßt, ist ein ebenso enttäuschendes wie bedeutsames Faktum.“

Kubiak, nur wenige Seiten weiter in der 'Krytyka‘, weist daraufhin, daß Nolte ja gerade das versucht habe, nämlich Auschwitz mit dem Gulag zu erklären (beging Hitler aus Furcht vor einer „asiatischen Tat“ selbst eine solche, fragt Nolte). Für Kubiak ist der Noltesche Teil des Historikerstreits der Beweis dafür, „daß der Wortschatz der extremen Rechten wieder Eingang gefunden hat in die Sprache seriöser Historiker“. Noltes Vergleiche hätten wohl kaum noch einen Erkenntniswert und dienten hauptsächlich dazu, das Dritte Reich zu relativieren: „Bei Noltes Art des Sichhineindenkens in die Sicht der Täter fällt das Recht der Opfer allzu leicht unter den Tisch.“ Eine Versöhnung mit dem Faschismus komme nicht in Frage, stellte Michnik bereits in einem Kommentar zu Reagans Bitburg-Besuch fest.

Doch auch Habermas‘ Beitrag ist in Polen nicht ohne Kritik geblieben. „Habermas hat recht, wenn er davor warnt, daß man bei Vergleichen von Holocaust und Gulag leicht Mißbrauch treiben kann, wodurch in einer Art Arithmetik des Grauens dann die Umsiedlung der Deutschen zu einem Vertriebenenholocaust wird“, schreibt Kubiak. „Er hat aber unrecht, wenn er aus Mitteleuropa ein Tabu machen will, weil der Begriff eine nationalistische Vergangenheit hat, weil dieses Konzept gegen den heutigen Status quo verstößt, der den Deutschen zum ersten Mal eine stabile Demokratie gebracht hat, die in enger Bindung mit dem Westen steht.“ Dann drohe alles Nationale zur alleinigen Domäne der Rechten zu werden.

„Die geschichtliche Unschuld von Völkern, die dank ihrer Erinnerung ihre Identität und Einheit aufrechterhalten, für die die Vergangenheit ein Schutz in schwierigen Momenten der Gegenwart ist, ist für die Deutschen unwiderruflich verloren“, faßt Woycicki seine Sicht der deutschen Vergangenheitsbewältigung zusammen. „Doch welche Gestalt soll das historische Bewußtsein eines Volkes annehmen, in deren Zentrum unverrückbar die Erinnerung an Auschwitz verankert ist?“ Gerade dies sei den Polen noch viel zu wenig bekannt: „Ein Gespräch zwischen einem Polen, für den nationale Identität geradezu synonym für Geschichtsbewußtsein ist, und einem Detuschen, der die Frage des geschichtlichen Bewußtseins für höchst problematisch hält, ist unerhört schwierig.“