Kalter Krieg in Marienfelde

■ US-Mission lud Journalisten ins Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Marienfelde: Fotografieren, Filmen, Interviews und freies Herumlaufen verboten / Angst vor Spionen aus dem Osten / US-Mission wählt Interviewpartner aus

Alte Berliner erinnern sich noch an den dichten Stacheldraht, der in den fünfziger Jahren die Flüchtlinge aus der „Zone“ von den Westberlinern trennte. Heute steht nur noch ein gewöhnlicher Zaun, doch das Aufnahmelager für Aus- und Übersiedler aus der DDR in Marienfelde ist immer noch hermetisch vom übrigen West-Berlin abgeriegelt. Warum, weiß heute niemand mehr so genau: „Da müssen Sie die Alliierten fragen“, antwortet die Verwaltungsangestellte im Lager. Und der Vertreter des Sozialsenats, der für die Verwaltung des Heims zuständig ist, zuckt mit den Schultern und weiß auch keine Antwort.

Gestern nachmittag jedoch hatte sich im Aufnahmelager ein großes Ereignis der Nachkriegsgeschichte angekündigt: Erstmals seit Errichtung des Heims sollten Journalisten, Fotografen und Kamerateams freien Zutritt zu dem Ort bekommen, an dem alle hier ankommenden DDR-Bürger und -Aussiedler die Aufnahmeformalitäten hinter sich bringen müssen. Die US-Mission hatte die Medien und sechs Filmteams geladen, über ein Dutzend Fotografen und mehr als 20 Rundfunk- und Zeitungsjournalisten waren gekommen. Bislang waren laut alliierter Anordnung selbst Außenaufnahmen streng verboten, und Anträge auf Fotografiererlaubnis innerhalb des Zauns waren von den US-Alliierten fast 40 Jahre lang kategorisch mit Ablehnung beschieden worden.

Kein Wunder also, daß das Interesse groß war, als der Sprecher der US-Mission, Laufer, die Journalisten gestern ins Lager einließ: Neuankömmlinge mit Koffern, Tüten, Taschen, lange Schlangen vor den verschiedenen Aufnahmebehörden, braungebrannte DDR-Urlauber mit kurzen Hosen, offensichtlich über Ungarn in den Westen geflohen. Bevor Mikrofone und Fotoapparate gezückt werden konnten, um die Lagerbewohner zu interviewen und zu filmen, wurden die Journalisten jedoch schnell in ein Aufnahmezimmer gezwängt: „Fotografieren, Filmen, Herumlaufen streng verboten“, so die Anweisung der US-Mission. Eskortiert von kräftigen jungen Männern, wurden die rund 50 Pressevertreter in einen Konferenzraum gebracht und dort 16 ausgewählten Lagerbewohnern gegenübergesetzt. Und während die Teams ihre Kameras aufbauten und die vielen Journalisten den wenigen DDRlern die immer gleichen Fragen stellten, hielten die kräftigen jungen Männer draußen unauffällig Wache.

In den fünfziger Jahren hätten die Flüchtlinge „hier richtig Zuflucht gesucht“. Damals, vor dem Mauerbau, sei die Angst vor Spionen groß gewesen, versuchte der US-Vertreter die Sicherheitsmaßnahmen zu begründen. Es habe Verschleppungen in den Ostteil der Stadt gegeben, und Repressalien gegen in Ost-Berlin lebende Familienangehörige, wenn - zum Beispiel durch ein Foto in der Zeitung - bekannt wurde, daß Verwandte nach West-Berlin geflohen waren. Und heute? Im einzigen Aufnahmelager in der Bundesrepublik in Gießen gibt es schon seit langem freien Zutritt. In Marienfelde, wo zur Zeit Tausende von DDRlern und Polen für die deutsche Staatsbürgerschaft Schlange stehen, wird der Geist der fünfziger Jahre wohl noch eine Weile konserviert werden: Vorletzte Woche nahmen ein DDR-Rentner und ein Passant einen jungen Mann vor dem Lager fest und zwangen ihn, mit zur Lagerleitung zu gehen. Er hatte einen vollbeladenen Trabbi vor dem Lager fotografiert. Die Lagerleitung setzte den Mann auf freien Fuß: Der vermeintliche Spion war der taz-Fotograf.

taz