Die DDR ist ein elendes Erziehungsheim hinter Stacheldraht

■ Ein Gespräch mit Wolf Biermann über das Fehlen einer organisierten Opposition in der DDR und die Reformen in Ostmitteleuropa / Der Sängerpoet über sich: Nur weil ich Kommunist bin, habe ich diese große Hoffnung. Und nur weil ich Kommunist bin, bin ich so verzweifelt / Über die Mauer: Sie ist auch eine etwas quer geratene Guillotine

taz: Die DDR auf Dauer / Braucht weder Knast noch Mauer / wir bringen es so weit / Zu uns fliehn dann in Massen / Die Menschen, und gelassen / sind wir drauf vorbereit. Kennst du das?

Wolf Biermann: Das ist eine Strophe aus meinem Flori-Have -Lied „enfant perdu“.

Das Bild der DDR, die Utopie, die ja in diesen Zeilen anklingt besteht die bis heute fort?

Dieses Lied insgesamt ist eine radikale, freche Kritik am Stalinismus in der DDR. Es besagt: Wenn wir es schaffen, eine sozialistische Demokratie in der DDR durchzusetzen, dann werden die Leute nicht mehr weglaufen, sondern wenn schon, dann kommen sie. Denn der Westen war damals und ist heute nicht das Menschenparadies. Konflikte, Arbeitslosigkeit, Neofaschismus, alles Schönheitsfehler, die im Denken und Fühlen der Menschen in Deutschland in einem anderen Licht erscheinen würden, wenn die DDR nicht so ein elendes Erziehungsheim hinter Stacheldraht wäre.

Sicherlich ist der Westen kein Menschenparadies. Trotzdem sieht es doch heute - im Unterschied zu den sechziger und siebziger Jahren - so aus, als wäre das Nachdenken über die Zukunft der Industriegesellschaft, über die ganze Problematik der Ökologie hier sehr viel fortgeschrittener. Werden hier nicht sehr viel eher gesellschaftliche Probleme benannt als in der DDR und auch Lösungen anvisiert? Ist heute eine gesellschaftliche Utopie hier nicht eher vorstellbar?

Das stimmt. Die Bundesrepublik ist ein hochentwickeltes kapitalistisches Land, in dem die Gefahren schärfer sichtbar werden als in anderen Ländern und die Menschen auch schärfer gestachelt werden, ihnen zu begegnen. Die Konflikte und Widersprüche werden immer dort schneller erkannt, wo sie schärfer ausgebildet sind. Die DDR ist zurückgefallen. Im übrigen gab es von Anfang an diesen von beiden Seiten auch so verstandenen Wettlauf. Es gibt ein rührend falsches Wort des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Georg Lukacs: Der schlechteste Sozialismus ist immer noch besser als der beste Kapitalismus. Inzwischen sagen warscheinlich sehr viele die dazu passende Gegendummheit. Ernst Bloch ärgerte sich damals über diesen Satz von Lukacs und zitierte - ich glaub‘, es war Salust - mit dem Wort „corruptio opti mi pessima“ - wenn das Beste verdirbt, ist das das Schlechteste, das Schlimmste.

Wenn es stimmt, daß dort, wo die Widersprüche, die Konflikte am schärfsten herausgebildet sind, sie auch am ehesten angegangen werden, dann ist das ja eine allgemeine Aussage. Du hast sie auf die Bundesrepublik bezogen. Müßte das nicht auch für die DDR gelten? Dort ist die gesellschaftliche Seite des Sozialismus, oder besser: die Distanz zwischen Gesellschaft und Staatsapparat so ausgeprägt, daß längst ein Konflikt hätte ausbrechen müssen.

Nein. In der DDR ist es fast umgekehrt. In der DDR sind die ganzen sozialen und politischen Konflikte, die es in allen östlichen Ländern in verschiedener Ausbildung gibt, weniger scharf. Die Verelendung der arbeitenden Menschen ist nicht so groß wie in der Sowjetunion, in Polen und anderen Ländern. Der relative Reichtum der DDR, der gemessen am Westen so schäbig aussieht und gemessen am Östlichen aber schon nahe ans Paradies heranreicht, der mildert die Konflikte. Im Übrigen ist die herrschende Klasse der Bürokraten in der DDR nicht ganz so schamlos wie in der Sowjetunion vorgegangen. Sie haben nicht so viele Morde auf dem Gewissen. Sie haben keine KZs errichtet wie in der Sowjetunion. Sie haben keine Meuchelmorde begangen wie in Polen. Sie haben keinen Militärputsch gemacht. Einige der Oberen in der DDR haben eine antifaschistische Vergangenheit. Das verschaffte ihnen in den Herzen vieler Menschen so etwas wie ein Wohlwollen und Kredit. Die Erbitterung über ihre Politik war groß, aber sie war nie so radikal, weil auch die Herrschaft nie so radikal ausgeübt wurde, auch nicht so radikal ausgeübt werden konnte, angesichts der offenen Grenze bis 1961 und angesichts der deutschen Geschichte, der Vergangenheit des deutschen Faschismus.

Bezieht sich das nur auf die Zeit bis zum Mauerbau?

Das gilt auch für die Zeit danach.

Warum haben sich denn nach dem Mauerbau die Widersprüche nicht zugespitzt?

Weil sie es nicht nötig hatten. Weil es neben dem Maulkorb in der DDR auch genügend Brot gab, um die Mäuler zu stopfen. Im Bewußtsein der meisten Menschen im Westen ist nicht genügend deutlich, daß der Niveau-Unterschied im Lebensstandard zwischen der DDR und der Sowjetunion viel, viel größer ist als zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Wenn ein Russe in die DDR kommt, erleidet er einen viel größeren Kulturschock auf allen Ebenen des materiellen Lebens als jemand, der aus der DDR in die Bundesrepublik kommt. Und dieser Schock ist schon groß genug, den hab‘ ich erlebt. Wenn aber die Herrschenden so diffus sind wie in der DDR und kein richtiger Haßgegner sein können, dann zerbröselt auch die Opposition. Jede Opposition braucht wie im Kaspertheater das Krokodil. Aber in der DDR trägt das Krokodil auch Züge des Kaspers. Es ist ein diffuses Krokodil. Mir war es immer deutlich genug. Meine Lieder, die ich damals in der DDR schrieb, die gingen wirklich gegen das Krokodil. Deshalb hat es mich auch gebissen. Meine Lieder waren schärfer, aggressiver, als die meisten Leute fühlten.

Es ist natürlich auf blöde Weise soziologisches Denken. Aber wie dachten denn die „meisten Leute“?

Die meisten Leute kamen direkt oder indirekt über ihre Eltern aus dem Faschismus und hatten erst einmal diese Lektion brav gelernt und kaum begriffen. Ich bin mit Leuten in der DDR auf die Oberschule gegangen und auf die Universität, deren Eltern Nazis waren, kleine und große. Natürlich waren das wache Leute, wißbegierig und ehrlich. Sie wollten etwas Gutes bewirken. Aber gerade wenn sie was taugten und nicht als Eintagsfliegen in der Weltgeschichte herumschwirrten und nicht das hatten, was damals noch nicht so genannt worden war, die Gnade der späten Geburt, dann fühlten sie sich schuldlos schuldig. Das lähmte ihre Oppositionskräfte gegenüber den alten Stalinisten. Sie waren zu bescheiden.

Ich muß noch einmal auf die Diffusität der Herrschenden und damit auch der Opposition zurückkommen, die ja, wenn ich dich richtig verstanden habe, auf die soziale und ökonomische Situation in der DDR zurückzuführen ist. Andererseits ist es doch so, daß es zwischen ökonomischer Reformdynamik und Demokratie einen Zusammenhang gibt. Die Entwicklung in China hat gezeigt, daß ökonomische Reformen zwangsläufig den Druck hin zu politischen Reformen nach sich ziehen. Die Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz war Ausdruck davon.

Klar. Mit Sklavenarbeit kann man keine moderne Wirtschaft aufbauen.

Aber wenn dem so ist, dann sitzen doch die Herrschenden in der DDR einem Mißverständnis auf. Oder ist es ihre Dummheit, diesen Zusammenhang nicht sehen zu wollen?

Das ist keine Dummheit. Von der Dummheit, die Leute dort für dumm zu halten, muß man sich freihalten. Sie sind reaktionär, aber nicht dumm. Die Herrschenden in der DDR sind bestimmt nicht dümmer als wir beide. Oder, anders gesagt, die Dummköpfe sind gerecht auf alle Seiten verteilt. Aber ihr materielles Interesse im weitesten Sinne des Wortes zwingt sie zu der Politik. Die wissen auch ohne unsere Nachhilfe, daß man mit demokratischen Mitteln eleganter ausbeuten könnte, einfacher, aber sie können es nicht, weil sie die Repräsentanten dieser alten totalitären Machtstruktur sind. Und selbst wenn sie es im Kopf begreifen, mit dem Hintern begreifen sie es nicht, und mit dem Bauch schon gar nicht.

Aber so alt, wie sie sind, müßten sie doch ein Interesse daran haben, sich in dieser DDR ein Denkmal zu setzen, das über ihren Tod hinaus existiert.

Dieses Denkmal haben sie sich längst in Form der Mauer gesetzt. Ein etwas in die Länge gezogenes, aber immerhin ein Mal, an dem man denken kann. Die Grenzen der Aufklärung haben wir im Laufe dieser viel zu lehrreichen Jahre lernen müssen. Gerade uns sogenannten Intellektuellen, die immer davon leben, daß sie auf die sanfte Gewalt der Vernunft hoffen, wie Brecht es formulierte, gerade uns fällt es unsagbar schwer, mit dem Kopf zu begreifen, daß diese Leute mit dem Bauch denken.

In der DDR hat sich ja vor einer Woche eine Gruppe konstituiert, die offen bei den nächsten Wahlen als Alternative auftreten will. Bei der Versammlung, bei der sie sich erstmals kirchenöffentlich vorstellte, gab es „Fundis“ und „Realos“, diejenigen, die für einen Dialog mit der SED plädierten, und diejenigen, die erklärten: Mit diesen Verbrechern reden wir nicht. Von dem ausgehend, was du eben gesagt hast, würdest du ja eher zu den „Fundis“ zählen, die sagen, es hat keinen Zweck mit der SED einen Dialog zu führen.

Das will ich damit nicht sagen. Aber die Fruchtbarkeit eines Dialogs hängt immer davon ab, wer den Dialog führt. Wenn in Polen die starke Solidarnosc-Gewerkschaft mit der noch stärkeren katholischen Kirche im Kreuz einen Dialog führt mit den verhaßten Repräsentanten des alten Regimes, dann kann bei diesem Dialog etwas herauskommen, weil wahre Machtblöcke sich gegenüberstehen. Aber ein paar verschüchterte, zerbröselte, oppositionell fühlende und denkende Menschlein, die sich unter dem muffigen Rock der Kirche gelegentlich verhuscht treffen, sind etwas anderes als die Arbeiter in Polen. Die sind nämlich nicht die Schafe, die vom katholischen Glemp-Hirten gelenkt werden. Wenn die katholische Kirche in Polen nicht so wollte, wie die Arbeiter machten, dann jagten sie ihren Hirten zum Teufel.

Polen ist also für dich das Gegenbeispiel zur DDR?

Ja, weil es dort schlechter ist, ist es dort besser. Außerdem hat jedes Volk seine eigene Geschichtsökonomie. Wenn du das revolutionäre Kleingeld zu früh verplempert hast, dann fehlt es dir im entscheidenden Moment. Der Schrei nach Reformen kann zu spät kommen, aber eben auch zu früh. 17.Juni '53. Es sieht so aus, als ob die DDR auch deswegen hinterherhinkt, weil sie auch zu früh in einer Zeit sich widersetzt hat, als die geistigen und materiellen Voraussetzungen dafür noch gar nicht herangereift waren.

Was war denn für dich der 17. Juni?

Jahrelang war es für mich das, was die Partei von mir hören wollte. Ein konterrevolutionärer, faschistischer Putsch, vom Westen initiiert. Später lernte ich, daß das alles Lüge ist. Es war ein Arbeiteraufstand, an dem der offizielle Westen seine pharisäische Freude hatte, wie auch heute die Herrschenden im Westen in verschiedenen Tonarten die Krise des DDR-Sozialismus wie eine faule Frucht sich in den Schoß fallen lassen. Mit verlogenen, besorgten Reden begleiten sie das.

Waren in diesem Arbeiteraufstand Elemente von Reformen enthalten, Elemente eines Prager Frühlings?

Ja, gewiß. Denn dieser Aufstand ging aus von den Bauarbeitern auf der Stalinallee, die sich gegen höhere Normen wehrten, gegen schlechte Ernährung, aber auch gegen die Bevormundung durch die stalinistische Bürokratie. Denen saß der Faschismus noch in den Knochen, leider auch noch im Gehirn. Und nun kam schon wieder eine so unterdrückerische Maschine. Und da diese Arbeiter ja nicht mit Karl Marx abends ins Bett gingen, konnten sie das nicht in irgendwelche marxistischen Kategorien fassen. Das war auch nicht nötig. Und weil das alles noch so unentfaltet war auch die Konflikte -, ist es kein Wunder, daß es keine sogenannten führenden Köpfe gab. Der Aufstand vom 17. Juni war kopflos. Grass hat in seinem Stück über diesen Aufstand Brecht vorgeworfen, daß der sich nicht zum Kopf dieser Arbeiter gemacht hat, was natürlich kopflos ist. Brecht hat die historischen Umstände wahrscheinlich kalt und scharf eingeschätzt und war der Meinung, daß erst einmal das Berliner Ensemble aufgebaut werden muß und nicht die DDR, daß sein Werk länger hält als die DDR, womit er ja recht hat. Aber das nützt den Menschen wenig, denn sie leben nicht von Gedichten, sondern vom Brot und der Wahrheit und von der Gerechtigkeit.

Und all das beginnt sich jetzt in Osteuropa durchzusetzen.

Jetzt leben wir in einer Zeit, wo alles das, wovon Leute wie Robert Havemann - ich natürlich auch - träumten, sich verwirklicht. Die Arbeiter in der Sowjetunion greifen wieder nach der Macht. Die Räte werden wieder Sowjets. Das Wort „Prawda“ fängt an, wieder Wahrheit zu bedeuten. Eigentlich könnten wir doch frohlocken. Wir könnten geradezu besoffen vor Begeisterung sein: Wir hatten doch recht. Große Genugtuung. Aber so richtig freuen kann ich mich nicht. Für den Geschichtsprozeß ging es unglaublich schnell. Was sind schon 20, 30 Jahre. Aber für ein kleines Menschenleben ist es der Unterschied zwischen jung sein und alt sein. Da ich ja diese ganzen Weltprozesse aus der beschränkten Sicht Deutschlands und - noch beschränkter - der DDR sehen muß, denn ich bin ja mit kurzer Kette an dieses Land angebunden, kann ich mich nicht freuen. Mein Verstand frohlockt, mein Herz ärgert sich. Die Sowjetunion freundet sich wieder mit ihrer eigenen Geshichte an. Bucharin lebt, Trotzki darf auferstehen, und Solschenizyn wird noch zu Lebzeiten verziehen, was man ihm antat. Politische Emigranten können wieder nach Hause fahren, sei es wie Lew Kopelev jetzt nach Moskau oder wie seine Frau Raissa wenigstens als Asche in der Urne. Der Sog, das Interesse, die Liebe, die Hoffnung vieler hinausgedrängter Menschen geht wieder zu ihren Ländern aus sentimentalen Gründen, die doch erlaubt sind. Und wenn man diese sentimentalen Gründe genauer ansieht, dann merkt man, sie sind ganz praktisch. Man ist eben am wirkungsvollsten dort, wo man sich am besten auskennt. Vertraute Freunde, vertraute Feinde. Und in der gleichen Zeit, wo es besser wird - mehr oder weniger langsam, mehr oder weniger gefährlich -, läuft die DDR aus wie ein alter Eimer. Und steht als politisches Schlußlicht mit all ihrem elenden Reichtum im Ostblock da, verbrüdert sich ohne Not mit den Massenmördern in China, muß sich gefallen lassen, mit Ceausescu, dieser blutigen Operettenfigur, in einem Atemzug genannt zu werden. Das ist zum kotzen. Wer erlebt schon Weltgeschichte als Weltgeschichte - ich nicht. Jeder hat den bornierten Blickwinkel. Ich kann mich nicht darüber freuen, daß der Grund für die Massenflucht aus der DDR eigentlich ein guter ist. Warum hauen denn die Leute jetzt ab? Doch nicht etwa, weil es schlechter geworden ist als früher. Es ist immer noch in der DDR besser als in anderen östlichen Ländern. Und gemessen am Zustand der Menschheit, gehört die DDR zu den reichsten, verfettetsten Ländern, die es überhaupt gibt. Das darf man in der Eile auch nicht vergessen.

Warum hauen denn dann die Leute ab?

Die Unterdrückung der Stasi, die Bespitzelung der Stasi ist wie eh und je. Die hat sich nicht verschlimmert.

Eher im Gegenteil.

Eher im Gegenteil, wie ich von gelegentlichen Besuchern höre. Es ist lockerer geworden durch die ganzen Westreisen, die jetzt gestattet werden. Selbst für die DDR-Bürger wurde es ja besser. Warum ist es jetzt plötzlich so unerträglich? Der einzige Grund ist die Sowjetunion.

Gehst du da nicht zu sehr von dir selbst aus? Wenn du diese 18-, 20jährigen siehst, die jetzt abhauen, von denen Monika Maron in einem Beitrag schrieb, sie könne diejenigen sehr gut verstehen, die glauben, zum ersten Mal selbst eine Entscheidung getroffen zu haben?

Meiner Meinung nach ist es das Beispiel der Sowjetunion noch dazu verklärt durch die angenehm große Entfernung -, das die Leute stachelt. Sie werden frech. Und die Leute werden immer frech in der Geschichte, nicht wenn die Unterdrückung am größten ist, sondern immer dann, wenn sie das Gefühl haben, daß die Herrschenden schlapp machen. Dieses Gefühl hat sich manchmal als falsch erwiesen. Dann haben sie sich blutig geirrt. Aber keß, aufsässig, aufrührerisch, rebellisch oder sogar revolutionär werden die Leute immer dann, wenn sie das Gefühl haben, sie können es sich leisten. Und nicht dann, wenn sie wissen, daß sie es sich leisten müssen. Die entscheidende Veränderung durch die Sowjetunion hat zwei Seiten. Zum einen das positive Beispiel einer freien Gesellschaft. Daß die Russen trotz der Freiheit nichts zu Fressen haben oder noch weniger als vorher diesen Hunger erleiden sie ja nicht in der DDR, sondern sie hören das Glockengeläut der Freiheit, sind berauscht. Vor allen Dingen aber zieht die alte Drohung mit dem Einmarsch der sowjetischen Panzer nicht mehr. Das spüren die Leute. Gorbatschow wird nicht noch einmal die Rote Armee in Bewegung setzen, um Honeckers verknöcherten Hintern auf dem Stuhl zu halten. Da die Unzufriedenen in der DDR aber keine gesellschaftliche Organisation gebildet haben wie in Polen oder wenigstens wie in der Tschechoslowakei, wo die Herrschenden so ähnlich aussehen wie in der DDR, aber die Beherrschten nicht, zerbröselt alles. Außerdem gibt es diese glitschig schiefe Ebene zum Westen hin, die so relativ leicht einen Wechsel von Deutschland nach Deutschland möglich macht. Man kann das Land verlassen und doch in Deutschland bleiben, was sich ja für andere Völker als Möglichkeit nicht so stellt. All das führt dazu, daß die produktiven politischen Potenzen, die natürlich auch immer wieder in der DDR nachwachsen, sich nicht zusammenballen können zu einer Organisationsform. Es ist ja kein Zufall, daß die organisationsgeilen Deutschen, die geradezu traurig berühmt sind für diese Neigung und Fähigkeit, sich in genau diesem Punkt von all den vergleichbaren Völkern unterscheiden. Sie haben eben nicht so etwas wie Solidarnosc oder wenigstens Charta 77.

Ist die Situation in der DDR zwischen Staatsapparat und Opposition nicht eher vergleichbar mit der in Ungarn, wo es auch eine relativ diffuse Opposition gibt, die intellektuellen Köpfe aber nicht in dem Maße in den Westen gegangen sind?

György Konrad lebt in Ungarn, Agnes Heller ist ihrem Lande trotz alledem nicht verloren. Haraszti, dieser glänzende Kopf, der ist Ungarn als Kristallisationspunkt auch nicht verloren gegangen. Die DDR hingegen wurde jahrzehntelang ausgeraubt. Alle Menschen, die endlich in Konflikt gekommen waren, die endlich frech wurden, die wurden in den Westen guillotiniert. Die Mauer ist auch eine etwas quer geratene Guillotine. Daß die Obrigkeit Leute in den Knast stecken und in den Westen verkaufen konnte, heißt doch, daß für sie der größte Gewinn nicht die Devisen waren, die sie auch noch genommen haben; sondern der größte Gewinn war, daß sie all die Menschen - und ich rede nicht von den berühmten wie Havemann, sondern von den frechen Leuten -, die etwas bewirken wollen, die eine eigene Meinung haben, die ehrgeizig sind, die das Maul aufmachen: Die sind immer in den Westen geschmissen worden, wie Menschenabfall. Und das mag auch ein Grund dafür sein, daß es in der DDR so anders aussieht.

Das Bild mit der langgestreckten Guillotine stimmt ja dann nicht mehr, wenn es einen Weg zurück gäbe. Roland Jahn hat in einem Kommentar in der taz geschrieben, diese Kirchenlimousinen, die immer im Westen die Leute abladen, die könnten ja auch auf dem Rückweg wieder welche mitnehmen. Er böte sich für eine Rückfahrt an. Überspitzt formuliert sagt er, die Plätze am runden Tisch werden jetzt verteilt, und wir müssen wieder zurück.

Diejenigen, die die Macht hatten, so einen tapferen Kerl wie den Roland Jahn in den Zug gen Westen zu pferchen, die Tür zu verriegeln, die haben nicht die Macht, solche Leute wie Sarah Kirsch, Günter Kunert, Erich Loest, Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und die vielen anderen, die sich nicht so an der Rampe spreizen, deren Namen nicht so bekannt sind, wieder zurückzuholen, die nicht. Es gab neulich das großmütige Angebot des Kulturministers der Regierung, die das Massaker in China so begrüßt hat als Sieg gegen die Konterrevolution ausgerechnet der hat erklärt, wir könnten alle zurückkehren, man würde uns das nicht weiter nachtragen. Die können uns am Arsch lecken, und noch nicht einmal das.

Gibt es denn für dich eine Situation, in der du dir eine Rückkehr vorstellen könntest?

Vorstellen kann man sich vieles. Hamburg ist schön und Altona ist lebendig. Die Elbe riecht so schön nach Nordsee und faulem Fisch. Wenn die Verhältnisse in der DDR so wären, daß solche wie ich wieder dorthin zurück könnten, dann brauchte ich ja nicht mehr hin.

Dann würde die Entscheidung, wo dein Lebensmittelpunkt ist, nach ganz anderen Kriterien fallen?

Die Entscheidung wäre angenehm vermenschlicht.

Es ist August. Zwei historische Daten im August, der 13. im Jahr 1961 und der 20./21. in 1968, haben die Geschichte, die Entwicklung des realen Sozialismus geprägt. Wie hast du eigentlich den 13. August 1961 erlebt?

Da war ich Student der Philosophie und Mathematik an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Und weil ich bei den Philosophen war, gehörte ich automatisch zu den Kadern, die eingesetzt wurden für flankierende Schutzmaßnahmen zum Mauerbau. Weniger geschwollen ausgedrückt: Wir wurden in die Häuser in der Nähe der Grenze geschickt und sollten den aufgeregten Leuten Beruhigungspillen verpassen. Wir haben die offizielle Lüge vom antifaschistischen Schutzwall treu verbreitet. Wir sollten abwiegeln: vorübergehende Maßnahme. Von heute aus und ironisch gesehen könnte man sagen, wir haben die Wahrheit gesagt. Denn gemessen an der Geschichte, in der wir uns befinden, sind die paar Jährchen wirklich nur eine vorübergehende Maßnahme. Stalinismus und Poststalinismus in der DDR sind nur eine historische Episode, die uns aber viel zu viel Lebenszeit weggefressen hat.

Warst du wirklich überzeugt, als du als Überzeuger losgeschickt wurdest?

Wir waren sehr jung und fühlten uns als Kommunisten. Wir wollten endlich Tacheles mit den Bonzen reden - ohne Westeinmischung. Wir hofften im Schutz dieses anachronistischen Bauwerks Mauer endlich in den Genuß unserer eigenen Widersprüche zu kommen. Aber diese Hoffnung hat sich als kindlich erwiesen, denn die Bürokratie unter Ulbricht damals wurde rücksichtsloser, schamloser als vorher. Insofern waren unsere Hoffnungen Illusion.

Die Zeit damals war ja vom Kalten Krieg geprägt. Was du eben ausgedrückt hast als Hoffnung eines kritischen jungen Kommunisten, das entsprach nicht den Herrschenden in der DDR. Die hatten doch andere Gründe für den Mauerbau.

Du drückst das sehr vornehm aus. Die hatten Angst, daß die DDR ausläuft wie ein alter Eimer. Das war der einzige Grund, und jedes Kind auf der Straße wußte es.

Wenn Stefan Heym heute sagt, das Phänomen, dieses kleine, nur beschränkt kontrollierbare Loch in der Mauer (in Ungarn) würde die DDR vernichten, dann hat sich ja nichts verändert, dann ist das Problem nur für 28 Jahre eingefroren gewesen. Jetzt ist es in derselben Schärfe wieder da, obwohl es eine politisch völlig veränderte Situation in Europa gibt.

Das ist der reziproke Geschichtswahnsinn der deutschen Situation. Jetzt, wo es besser wird, hauen sie ab. Ich bin kein Psychologe, die können das vielleicht besser erklären.

Und sie meinen Gorbatschow und hauen deshalb in den Westen ab?

Jetzt, wo endlich so etwas wie eine rationale Hoffnung erlaubt wäre, lassen sie alle Hoffnung fahren. Jetzt, wo das Schiff anfängt nicht mehr zu sinken, retten sie sich an Land in den Westen. Und daß das für viele, wie du ganz gut weißt, keine Rettung ist, das ist ein anderes Kapitel, eher für einen Roman.

Die Linke - was immer das in der Bundesrepublik heute ist hat keine Antwort auf den Reformprozeß in Ostmitteleuropa. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozeß dort vonstatten geht, führt dazu, daß wir atemlos der Entwicklung hinterherhinken.

Der Prozeß verläuft in einer menschenartigen Geschwindigkeit. Wir sind dabei wie Zaungäste. Die Weltgeschichte findet im Moment nicht in Deutschland statt. Das ist ja kein Schaden für die Welt.

Sind wir wirklich nur Zaungäste? Gäbe es nicht Möglichkeiten, den Prozeß der Reformen zu unterstützen? Ist es nicht so, daß wir - ob wir es wollen oder nicht - mehr sind als Zaungäste, sogar eine historische und politische Verantwortung haben? Eben Störfaktor dieses Reformprozesses sein können oder ihn unterstützen?

Wir müssen doch die Frage beantworten, ob wir diese Menschen, die flüchten wollen oder schon flüchten, ermuntern herzukommen oder ob wir sie auffordern sollen, dort zu bleiben, wie es die CDU tut.

Und die Linke auch.

Die Linke aus alter Dummheit und die CDU aus neuer Schlauheit. Solange ich in der DDR selbst lebte, hatte ich auch das Recht zu fordern, daß die Leute dableiben. Es war schon damals deutlich zu sehen, daß jeder, der abhaut, die Opposition schwächt und die verhaßten Verhältnisse im Grunde verfestigt. Ich war damals sehr unduldsam gegenüber Leuten wie Flori Havemann, die für sich entschieden wegzugehen. Wenn sie mich vor dreizehn Jahren nicht rausgefeuert hätten, wäre ich wahrscheinlich noch da und wäre wahrscheinlich mit Erich Honecker einer der letzten, die dort mehr oder weniger bequem unbequem leben. Aber jetzt, hier im Westen sitzend, habe ich nicht das moralische Recht, von Leuten zu verlangen, dort zu bleiben. Trotzdem hat man Wünsche und denkt mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf: Bleibt doch lieber da und wehrt euch. Holt auf. Organisiert euch wenigstens wie in der Tschechoslowakei, wenn es schon noch nicht möglich ist, daß die Arbeiter sich im Sinne einer freien Gewerkschaft organisieren.

Was wäre von hier aus nötig, um solche gesellschaftlichen Kristallisationsprozesse in der DDR zu unterstützen? Denn ich wäre ja froh, wenn wir, bezogen auf die DDR, hier in der Bundesrepublik tatsächlich nur Zaungäste eines Prozesses wären, in dem die DDR-Gesellschaft ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Aber dem ist ja nicht so. Was können wir also tun?

Ich weiß es nicht.

Schematisch gesehen gibt es in der Bundesrepublik zwei Fraktionen, die quer durch alle Parteien, von den Grünen bis hin zur CDU gehen. Die einen würde ich die Deutschland -Fraktion nennen, die auf merkwürdige Weise aktualisiert an der Wiedervereinigung festhalten will, und die andere, die sich davon verabschieden will oder es schon getan hat. Ist das eigentlich ein Thema, auch angesichts der Entwicklung in Europa, an dem es lohnt, sich so festzubeißen, wie es in der öffentlichen Debatte immer wieder geschieht?

Nein. Das glaube ich nicht mehr. Ich selber habe ja viel von Deutschland gesungen. Meine Lieder und Gedichte sind ja deutscher als das meiste vergleichbare Zeug. Aber daß in der DDR soviel mehr Menschen wirklich ein geeintes Deutschland wünschen als im Westen, quer durch alle Parteien, das ist für die Betroffenen eine optische Täuschung. Sie meinen nur, sie meinten Deutschland. Das ist nur die etwas sanftere Formulierung. Im Grunde meinen sie die sozialen und politischen Verhältnisse und fallen selbst auf diese Verwechslung herein, in die sie hineingetrieben werden. Deshalb, weil es jahrelang auch in der DDR immer noch relativ billiger war, sich gesamtdeutsch zu geben als antistalinistisch. Wenn die sozialen und politischen Probleme in der DDR im Sinne der Demokratie und im Sinne eines wirklichen Sozialismus und nicht eines „Realsoz“ gelöst werden würden, dann wird diese ganze deutsche nationale Frage plötzlich so klein werden, wie sie in Wirklichkeit ist.

Warum ist die kritische Intelligenz, die ich in den letzten 20 Jahren immer in der DDR gehört habe, jetzt so stumm? Weder zur propagandistischen Medienkampagne in der DDR, der Rechtfertigung der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in China im 'Neuen Deutschland‘ noch zu den Reformen in Ostmitteleuropa meldet sie sich zu Wort. Jetzt, wo soviel los ist, warum halten die alle fest am Schweigen? Ich meine damit Leute wie Christa Wolf, Volker Braun, aber auch so eine ost-westliche S-Bahnexistenz wie Heiner Müller?

Die lange Leine ist manchmal viel fester als die kurze. Ich find es gut, daß mindestens diese Leute, die du jetzt genannt hast, frei zwischen Ost und West hin- und herfahren können. Aber das kostet, dieses bedenkliche Privileg. Ich bin froh, daß nicht ich den Preis dafür zahlen muß. Umsonst gibt es nichts. Nicht etwa, daß die gekauft wären. Dazu sind sie zu stark. Die Schuld für diese gefährlichen Privilegien trifft nicht diese Schriftsteller, sondern diejenigen, die den Rest der Menschheit einsperren. Ich glaube, der Grund, daß solche Leute, die ja bewiesen haben, daß sie auch das Maul aufmachen können, keine Feiglinge, keine Dummköpfe, nicht bestochen, höchstens gedrückt, gedrängt sind, daß die auch wissen und spüren, daß jetzt keine Phase für einsame Helden im Geschichtsprozeß ist. Walesa wäre ohne die Solidarnosc ein kleiner querulatorischer Elektriker auf der Leninwerft, der ab und zu zur Beichte geht, nichts mehr. Anders in Rumänien, die sind ein Zeitalter zurück. Die sind sogar hinter der DDR. Da ist so ein einzelner Mann wie der große Dichter Mircea Dinescu eine wichtige Stimme. Hoffentlich schlagen sie ihn nicht tot.

Ich komme doch wieder auf Ungarn zurück. Dort gibt es diese gesellschaftlichen Organisationen auch nicht, und trotzdem gibt es eine oppositionelle Intelligenz, die nie geschwiegen hat und die jetzt einen gewichtigen Platz im Demokratisierungsprozeß einnimmt.

Weil Ungarn nach den Schrecken von '56 immer die lustigste Baracke im sozialistischen Lager war. Da reißt man leichter das Maul auf. Die Preise sind ja auch niedriger fürs Wahrheitsagen.

Aber in der DDR sind sie doch auch niedriger geworden?

Du siehst, immer noch zu hoch. Soll ich über Preise schwadronieren, die ich nicht zahlen muß? Ich kann mich nur an die Heldenbrust von gestern werfen. Als ich dort war, habe ich immer das wenige, was ich rausbekommen habe, deutlich und klar gesagt.

Trotzdem, ich verstehe die stumme Haltung der DDR -Intelligenz, aber auch die Hilflosigkeit der Intellektuellen in der Bundesrepublik angesichts des Reformprozesses in Ostmitteleuropa nicht.

Natürlich bewegt mich tief, begeistert mich, erfüllt mich mit Hoffnung und mit tiefster Sorge all das, was im Osten passiert. Schwärzeste Skepsis, die begründet ist und die wir uns nicht abgewöhnen werden, und kindliche Hoffnung, die wir uns auch niemals abgewöhnen werden. Aber alle diese heftigen politischen Gemütsbewegungen konzentrieren sich bei mir mehr auf die östliche Welt. Vom Blutbad in China über die Streiks in Sibirien und dem Regierungskuddelmuddel in Polen, dem runden und dem dreieckigen Tisch in Ungarn, und nicht so sehr auf die DDR. Marx schrieb ja in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie im Grunde in biblischem Modelldenken verhaftet: Die Letzten werden die Ersten sein. Er beschwor ausgerechnet die zurückgebliebenen Deutschen als Vollender der großen Menschheitswerdung. Pustekuchen und Heil Hitler. Ich will mich nicht verrückt machen am falschen Hoffen. Ich sehe so kalt ich nur kann, ich kann nicht so gut kalt, daß in der DDR im Moment nichts für den Weltprozeß entschieden wird. Die Herrschenden in der DDR haben eigentlich nur noch eine einzige Karte in diesem Spiel im Ärmel, einen Trumpf. Und daß der stechen wird, das ist meine Angst. Sie hoffen darauf, daß Gorbatschow stürzt. Daß die nationalen Konflikte, die sozialen Kriege, die jetzt aufbrechen, die Rechnung, die ihm jetzt präsentiert wird aus 60, 70 Jahren Mißwirtschaft, Kolonialismus, Ausbeutung, Heuchelei, Massenmord, all diese Rechnungen kommen jetzt auf den Tisch und sollen jetzt beglichen werden, heute. Und die Herrschenden in der DDR hoffen, daß er bankrott macht. Wenn er bankrott macht, sind sie saniert. Miese Rolle, mieser Job im großen Drama der Geschichte.

Und deshalb hauen die Leute jetzt ab?

Sie fürchten diese Möglichkeit, weil sie nicht dumm sind. Und sie haben keine Hoffnung mehr, weil sie erschöpft sind. Auf den guten Ausgang dieser Tragödie wollen sie keine Hoffnung mehr vergeuden. Ich bedaure das, aber ich kann es nicht mehr verurteilen. Brecht schrieb: „Keinen Gedanken verschwende auf das Unabänderbare.“ Ich lese diese Wahrheit gegen den Strich: Los, verschwende deine Zeit auf das Unabänderbare, es lohnt sich doch.

Gespräch: Max Thomas Mehr