Der wilde Westen vor der Haustür

■ Anhänger eines Viehtransporters kippte auf dem Weg zum Schlachthof um / Verwegene Jagd auf Jungbullen / Vorwurf der Tierquälerei

„Ich hörte einen Knall wie von einer Gasexplosion und bin gleich aus meiner Hinterhofwohnung an der Beusselstraße runter“, berichtet der Tierpfleger Lutz B. Das Bild, das sich ihm bot, war recht ungewöhnlich. Zu nachtschlafender Zeit gegen 0.45 Uhr standen auf der Straße insgesamt neun Jungbullen, zum Teil stark blutend. Einige der unter Schock stehenden Tiere machten Anstalten loszulaufen.

Auf dem Weg zum Moabiter Schlachthof war beim Einbiegen von der Beussel- in die Sickingenstraße der Anhänger eines Augsburger Viehtransporters umgekippt. Der Fahrer fuhr wahrscheinlich viel zu schnell. Der meterhohe, doppelstöckige Anhänger mit pro Etage zwölf dicht gedrängt eingepferchten Kühen schlitterte funkenstiebend über die Fahrbahn. Wenn die oberste Dachleiste nicht aufgeplatzt wäre, hätten sich die etwa 600 bis 800 Kilo schweren Jungbullen vermutlich in Panik gegenseitig totgetrampelt. Dieses Schicksal ereilte nur ein Tier. Seine Hufe waren in einem Lüftungsschacht eingeklemmt.

Daß die anderen 23 entwichenen Jungstiere lebend in einen anderen Transporter umgeladen werden konnten, war Lutz B. mitzuverdanken. Der Tierpfleger: „Ich habe drei Bullen die ganze Rostocker Straße herunter bis in Höhe der Kraftwerkunion an der Hutten-/Ecke Berlichingenstraße verfolgt. Den ersten habe ich in einen Hauseingang reingekriegt, postierte davor zwei Leute aus einer zufällig anwesenden Gruppe von fünf Arabern. Den zweiten Bullen konnte ich in der Huttenstraße in ein Hochparkdeck treiben, hab‘ da auch wieder zwei Araber abgestellt. Der dritte Bulle ist mir dann leider entwischt.“ Schließlich bekam der Tierpfleger Verstärkung von tatendurstigen Beamten eines Sondereinsatzkommandos. Zunächst mußten die Polizisten, in deren Ausbildungsplan gewiß nicht der Umgang mit zornigen Stieren stand, sich bei Lutz B. über das in der Situation angemessene Verhalten belehren lassen. „Da kamen zwei mit Karabinerhaken und zum Dallas-Lasso geknüpften dicken Hanfseilen an, die sie den Bullen über den Kopf werfen wollten. Das redete ich denen aus. Wenn ein Bulle an einem langen Seil Zeit hat loszurennen, dürfte ich wohl auf dem Asphalt Trockenski fahren und wie ein Wimpel hinterherflattern. Ich wies die Polizisten statt dessen an, die offenen Hauseingänge abzusperren und schon mal auf die nächsten Querstraßen zu achten.“ Weil auf der Sickingenstraße unterdessen auch Absperrleinen gespannt waren, gelang es schließlich nach längerer Zeit, alle der vereinzelt sogar in Hinterhöfe ausgebüchsten Rindviecher wiedereinzufangen.

Gleich an den Ort des Geschehens geeilt war der Amtstierarzt. Erst kurz vor zwei Uhr, also über eine Stunde nach dem Unfall, entschied er, den in dem Anhänger reglos in einer Ecke liegenden letzten der Jungbullen notzuschlachten. Lutz B. betrachtet diese Verzögerung als unnötige Tierquälerei, zog dann aber eine Strafanzeige zurück. Die Auftraggeber des Rindertransportes hätten den Bullen wohl partout noch lebend zur Schlachtbank schaffen wollen, wohl weil ein totes Rind wegen des sofort gerinnenden Blutes bestenfalls nur noch als Hundefutter verwertbar ist, argwöhnt er.

„Ich habe die Anzeige dann doch zurückgezogen, weil Tiere vor Gericht leider immer noch eine bloße Sache sind und Schlachtvieh im Grunde genommen nur als Wirtschaftsgut betrachtet wird“, erklärte der Tierpfleger. Zurückblieben von der Tiertragödie große Blutrinnsale. Die Lachen wurden von der Feuerwehr, die auch den Anhänger wieder mit einem Kran aufrichtete, weggespült.

Thomas Knauf