Woodstock-betr.: "manche gehen heute noch am Woddstock", taz vom 12.8.89

betr.: „Manche gehen heute noch am Woodstock“, taz vom 12.8.89

In Eurer Retrospektive zur „Woodstock Music and Art Fair“ laßt Ihr eine Stimme zu Wort kommen, deren zentrales Urteil über diese aus berufenem Munde als „vielleicht das kulturgeschichtliche Ereignis unseres Jahrhunderts“ (Abbie Hoffman) bezeichnete unorganisiert-spontane (im besten Sinne) Manifestation einst wohl spirituellen und sexuellen als auch in seinen Ausläufern politisch-sozialen Aufbruchs sich auf Manegementmängel in Vorbereitung und Ablauf der Veranstaltung bezieht und damit „die Realität“ zu beschreiben sich brüstet.

Die Tatsache der Qualität jener Massenversammlung des „anderen Amerika“ als ein Höhepunkt eines befreiten Lebensgefühls einer unfrei, desinteressiert und kritiklos sozialisierten Mittelstandsjugend, in dessen Mittelpunkt „Liebe“ als vorerst unpolitisches und freundliches Prinzip eines Gerechtigkeitsempfindens sowie der Achtung anderer stand, wird von dem Autor unerwähnt gelassen beziehungsweise auch an einigen Stellen und in seinem Fazit in anmaßender Weise lächerlich zu machen versucht und diskreditiert (siehe erste Hälfte von „Das Publikum: Wohlerzogene Scouts“, wohlerzogene „Scouts“ im übrigen nach Behrs eigenem Bekunden deshalb, weil sie das reduzierte Band-Programm, Hunger, Durst und Chaos ohne Radau ertrugen, ein Anlaß zur Kritik bleibt wohl im dunkeln; im weiteren Verlauf des Textes beklagt er jedoch seine vermeintliche Angst, von frustrierten Massen gelyncht zu werden etc.).

Ich meine, daß es dem Charakter und Niveau Eurer (unserer) Zeitung schlecht zu Gesicht steht, das Zurückdenken an eine ja im übrigen auch für die Alternativ- und Subkultur der siebziger und achtziger Jahre bahnbrechende, wenn auch mit ursprünglich geschäftlicher Planung zustandegekommene Eigeninszenierung des gleichberechtigten Miteinanders, der Hoffnung und der Lebensfreude einem kleinkarierten Spießer vorzubehalten, der schlechte Organisation, die im Kapitalismus unvermeidliche Vermarktung relevanter Gegen und Protestkulturen als Mittel der Kontrolle ihrer Breitenwirkung, mangelnde Hygiene, Verspätungen, Improvisation und die nun einmal systembedingte Dominanz der ja am gesellschaftlichen Lehrangebot privilegiert partizipierenden und gleichzeitig einer rigiden Sexualerziehung ausgesetzten Mittelstandsjugend in alternativen Bewegungen bejammert.

Die Anklage des Schreibers, daß mittlerweile aus den Woodstock-Tramps nur biedere Yuppies wurden, mag für viele damals Dabeigewesene zutreffen, sie gilt jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu allererst für Herrn Behr selbst, ihm gesellt sich aber auch noch Dummheit zu, wenn er das Festhalten an Hoffnung kraß als Verblödung denunziert, obwohl ja alle wissen, daß Hoffnung eine entscheidende Antriebskraft jeder geistigen und sozialen Bewegung ist.

Vielleicht ist Behr auch einfach mit seinem möglichen persönlichen Scheitern vor den vor 20 Jahren auch von ihm noch mitgetragenen Idealen und Gemeinschaftsutopien innerlich nicht ins Reine gekommen und wirft jetzt spitze Messer gegen jene, die nicht aufgegeben haben und auch „heute noch am Woodstock gehen“, was aber besser ist als lediglich begeugt im Trend zu stehen. (...)

Andreas Lindenberg, Hannover