Reiß den Stacheldraht aus dem Kopf

Udo Knapp, Mitarbeiter der Grünen, zu Peter Lohauß vom Parteivorstand der AL und dem Vorschlag, DDR-Flüchtlinge wie Asylsuchende zu behandeln  ■ D E B A T T E

Die richtige Forderung nach Zweistaatlichkeit verwandelt Peter Lohauß mittels der Verweigerung bundesdeutscher Pässe für DDRler in den Mauerbau von links. Auch wenn es vielen AL -Menschen nicht paßt - der realsozialistische Weg ins Glück war schon vor mehr als 20 Jahren ein auslaufendes Modell. Schon Marcuse weist nach, daß etwa 1923 eine eigenständige, sozialistische Gesellschaft nicht mehr möglich war. Vielmehr war und ist die Wechselwirkung zwischen der westlichen und der sowjetischen Entwicklung „die determinierende geschichtliche Tendenz, die den Sowjetmarxismus als Ideologie“ sowie die soziale Wirklichkeit beherrscht.

Die Idee eines autonomen, mit Freiheitsrechten ausgestatteten Individuums, das sich nicht gegen, sondern in der Gesellschaft definiert, ist trotz zweier Weltkriege und Klassenauseinandersetzungen einfach unschlagbar. Auch Mexikaner hoffen wie die Sowjetmenschen oder die DDRler, die Menschenrechte, die es in den westlichen Staaten gibt, endlich auch für sich selbst als reales Recht zu erwerben. Gorbatschows Perestroika meint in der Substanz den Versuch, aus einem starren, nicht entwicklungsfähigen Gesellschaftsmodell eine reformfähige Gesellschaft zu machen. Die Perestroika meint nichts anderes, als das vorsichtige Adaptieren der Ideen der Aufklärung, von Demokratie, Öffentlichkeit und Markt. Weil diese Gedanken für Lohauß Selbstkritik bedeuten, muß die Zweistaatlichkeit als letzter Anker mißbraucht werden. Fakt ist: Die Zweistaatlichkeit ist längst unverrückbare, allseits akzeptierte Realität. Vielleicht ist deswegen das Schwadronieren auch mancher grün-nationaler Träumer darüber so einfach. Lohauß aber braucht die Zweistaatlichkeit, weil er nur so seinen absurden Polittraum von einem besonderen, deutsch-sozialistischen Weg weiterträumen kann.

Wir haben Schwierigkeiten, uns Rot-Grün zuzumuten, geben beim Mitregieren eine eher bescheidene Vorstellung, aber die DDRler sollen gefälligst eine ordentliche Revolution hinkriegen. Das ist zum Heulen und zum Lachen: Leute, die als Revolutionäre gescheitert sind, predigen anderen den Umsturz.

Die achtziger Jahre gehörten der neokonservativen Reaganschen Volte und der erfolgreichen Etablierung der grünen ökologischen Gedanken in allen westlichen Demokratien. Hier bei uns hat sich der Nebel gelichtet, die Perspektive ist deutlich, im Westen geht es um den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und Demokratie, die der Marktwirtschaft Grenzen ziehen kann. Es geht jetzt um das Wie, die Richtung ist klar.

In den neunziger Jahren aber werden die osteuropäischen Länder, die Sowjetunion und China die weltpolitische Dynamik bestimmen (J.Reiche). Dabei drehen die Menschen das Rad ihrer Veränderungen so rasend, daß der Westen - kaum glaubend, was da geschieht - fasziniert am Zaun zusieht oder, wie Lohauß, Kohl oder Frau Hamm-Brücher, ängstlich eigene Interessen hütend, zu beckmessern beginnt. Dabei sind die Risiken klar: Entweder die Assimilation aller osteuropäischen Länder an die nun wahrhaft universellen Ideen der Menschenrechte aus der Amerikanischen und Französischen Revolution gelingt, oder Militärputsche werden Bürgerkriege provozieren und können so den Weltfrieden gefährden.

Daraus folgt, Peter Lohauß, daß es geradezu abenteuerlich und kriegstreibend ist, der Bundesrepublik eine Politik der Verstärkung der Mauern, das „Anheizen im Kessel DDR“ zu empfehlen. Sind denn Menschen für Dich Geiseln Deiner politischen Ideen? Zweistaatlichkeit als Abgrenzung von links beendet das Wiedervereinigungsgeschwätz nicht, es wird dadurch bestärkt und kann sogar gegen Reformen im eigenen Land ins Feld geführt werden.

In der DDR wird entgegen der offiziellen Propaganda die Versorgungslage schwieriger werden; die ökologische Krise hat Ausmaße, die wie die Bestätigung grüner Apokalypsen erscheinen; im ersten deutschen Staat des Antifaschismus hat sich besonders bei Jugendlichen aus Ausweglosigkeit Rechtsradikalismus entwickelt, der mindestens so stark ist wie die Republikaner bei uns; die Anhänger Gorbatschows in der SED, so es sie überhaupt gibt, verfügen bisher jedenfalls über keinerlei Rückbezug zu gesellschaftlichen Bewegungen. Die Intellektuellen in der DDR, wie übrigens bei uns in der Bundesrepublik, halten sich aus der Politik raus, pflegen allenfalls die deutsch-romantische Untugend der Trennung von Schönheit, Geist und Politik; und bei den Westreisen erleben die DDRler, daß sie trotz aller individuellen Schufterei zu Hause draußen in der Welt nichts haben und nichts sind. Warum, verdammt noch mal, soll DDR -Frau oder -Mann bei dieser Lage eigentlich nicht abhauen? Hätte Peter Lohauß Anfang der sechziger Jahre Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Peter Rambausek, mich auch in Abschiebehaft genommen und zwangsweise zurückgeschickt?

Ich freue mich, daß die AL nun endlich auch die Trennung von politischem Asyl und anderen Fluchtgründen in ihre politische Programmatik übernommen hat; aber bei Aus- und Übersiedlern, geflüchteten DDRlern geht es nicht um Ausländer im Sinne der entsprechenden Gesetze, sie gehören historisch einfach irgendwie in unseren sogenannten deutschen Laden. Da werden wir einfach zusammenrücken müssen. Wie schon Pastor Albertz gegen Adenauer und die SPD die Aufnahme der damals Fliehenden beharrlich durchsetzte und organisierte, werden auch diesmal die zwei Millionen, die kommen werden, aufgenommen, wenn auch mit Gegrummel. Die Mehrheit der DDRler wird drübenbleiben, und von unserer Politik als zukünftiger Regierungspartei, wird es abhängen, ob sie die Kraft und die Chance finden werden, sich selbst zu befreien.

Karsten Voigt (siehe taz vom 18.8.89) und Horst Ehmke haben, während Egon Bahr sich im Urlaub erholt, die bisherige SPD-Politik gegenüber Osteuropa, das Anerkennen realsozialistischer Diktaturen, um damit Entspannung, Abrüstung und gesellschaftlichen Wandel einzuhandeln, für beendet erklärt. Der Preis für das Verhandeln mit den herrschenden realsozialistischen Kadern war das faktische Ignorieren der Oppositionskräfte in allen osteuropäischen Ländern; den Status quo auch finanziell abzupolstern war wichtiger, als die Freiheitsträume in Polen, der DDR und Ungarn zu unterstützen. Vielleicht war etwas anderes auch gar nicht möglich. Ich schlage vor, Voigts Vorstoß der offensiven Unterstützung der osteuropäischen Opposition und Veränderung außerhalb der DDR aufzugreifen, denn wenn es in Polen, Ungarn, der Sowjetunion und bald auch in der CSSR vorangeht, werden die wirtschaftlichen Vorteile der DDR, die sie im Augenblick noch hat, verschwinden und der innere Reformzwang von selbst wachsen.

Zusätzlich brauchen wir eine neue DDR-Politik. Eine Gasentschwefelungsanlage mit Entstickung kostet etwa 500 Milllionen D-Mark. Zwei Milliarden D-Mark kostet eine von Siemens projektierte Totalrenovierung des DDR-Telefonnetzes, damit es den Notwendigkeiten entspricht. Wir schlagen der DDR vor: Schenkungen gegen Liberalisierung, Hilfe gegen Pluralismus, impertinentes öffentliches Drängen auf Wandel, demonstrativ und mit runden Tischen auf allen Ebenen. Ich weiß, wie problematisch dieses Instrument ist: Denn zivilisierte Länder sollten Menschenrechte gewähren, ohne dazu gezwungen zu werden. Wir schenken der DDR kein cash, sondern moderne Industrieanlagen, die dem ökologischen Stand der Technik entsprechen und den Menschen in beiden Deutschlands das Leben erleichtern.

Also: Aufnahme aller DDR-Flüchtlinge, Aus- und Umsiedler ohne Bevorzugung hier bei uns, offensive materielle und ideelle Förderung des Wandels in Osteuropa, Schenkungen gegen Freiheit und Ökologie, eine grüne Europapolitik, die dem nationalstaatlichen Wiedervereinigungsgerede die Grundlage entzieht - das wären die vier Grundelemente einer grünen DDR-Politik.

„Der Stacheldraht wächst langsam ein tief in die Haut, Brust und Bein, in Hirn, in graue Zellen...“, schrieb Biermann 1976. Komm, Peter Lohauß, reiß Dir den Stacheldraht aus dem Kopf. Glaub mir, der Biermann hat recht, zur „Freiheit der individuellen Mündigkeit“ gibt es keine Alternative; sie neu zu gewinnen, immer wieder, wohl wissend, daß sie leicht wieder verlorengehen kann, das ist das ganze Risiko grüner Politik.