Fignons Schock in der letzten Runde

■ Greg LeMond wird nach seinem hauchdünnen Sieg bei der Tour de France auch Straßenweltmeister

Berlin (taz) - Wohl einen der größten Schocks seines Lebens erlebte Laurent Fignon auf der letzten Runde des Rennens um die Straßen-Weltmeisterschaft im französischen Chambery. Auf der giftigen 7,5 Prozent steilen Steigung, die die Radprofis in dieser mörderischen Prüfung 15mal bewältigen mußten, hatte sich der Franzose mit wuchtigem Tritt allein vom Feld abgesetzt und sich auf die Verfolgung der beiden führenden Fahrer Thierry Claveyrolat (Frankreich) und Dimitri Konitschew (UdSSR) begeben. Plötzlich hatte er ein Deja-vu -Erlebnis der besonderen Art. Hinter ihm ertönte jenes vertraute Keuchen, das er während der gesamten Tour de France im Ohr gehabt hatte. Greg LeMond war wieder da. Der Amerikaner, der Fignon den Tour-Sieg beim Zeitfahren am letzten Tag um acht Sekunden entrissen hatte, war auch in Chambery nicht abzuschütteln.

Während ein gestandener Profi nach dem anderen kopfschüttelnd und entkräftet vom Rad und in den Begleitwagen kletterte, klebte LeMond, der „Hinterradlutscher“, wie ihn Fignon bei der Tour verächtlich getauft hatte, unverdrossen im Windschatten des Franzosen, obwohl ihn eine Delle in der Hinterradfelge so behinderte, daß er schon mehrfach an Aufgabe gedacht hatte.

Alles wie gehabt? Mitnichten! Denn nun kam der Schock für Fignon. Hatte sich LeMond bei der Tour, um Kräfte zu sparen, strikt geweigert, auch nur die geringste Führungsarbeit zu leisten, war er diesmal erstaunlich kooperativ. Ein kurzer Blick und schon zog der schnelle Yankee an Fignon vorbei, eine Demonstration von Stärke, die den nach seinem Tour -Debakel psychisch ohnehin angeknacksten Franzosen vollends erschütterte. Der Rest war beinahe Formsache. Während der rauschenden Abfahrt, bei der Geschwindigkeiten bis zu 90 Stundenkilometer erreicht wurden, rückte die Spitzengruppe wieder zusammen, Claveyrolat und Konitschew wurden eingeholt, von hinten kamen Steven Rooks sowie die irischen Sprintspezialisten Martin Earley und Sean Kelly. Der Spurt mußte die WM entscheiden.

Und da zeigte LeMond einmal mehr, wer der schnellste Radfahrer der Welt ist. Von der Spitze zog er den Sprint an, und Kelly, der in seiner langen Karriere zu gern einmal Weltmeister geworden wäre, konnte so hurtig strampeln wie er wollte, er kam an LeMond nicht vorbei. Resigniert rollte er schon einige Meter vor dem Ziel aus und überließ Konitschew großzügig den zweiten Platz.

Dimitri Konitschew war die eigentliche Sensation dieses Rennens. Kaum jemand hatte erwartet, daß einer der sowjetischen Fahrer, die zum ersten Mal als Profis starteten, den etablierten Größen des Radsports auf diesem teuflischen Kurs würde Paroli bieten können. Konitschew jedoch war nicht nur in der Lage, den kühnen Ausreißversuch mit Claveyrolat zu starten, sondern schaffte es sogar noch, dranzubleiben, als die beiden eingeholt wurden, und Cracks wie Rooks, der Vierter wurde, und Claveyrolat (5.) hinter sich zu lassen. Dann kam der frustrierte Favorit, Laurent Fignon, geschlagen diesmal sogar nur um schlappe drei Sekunden.

Ein besonders tragischer Fall landete auf dem zehnten Platz: Claude Criquelion, der im letzten Jahr Weltmeister geworden wäre, hätte ihn Steve Bauer auf der Zielgeraden nicht rüde ins Publikum geschubst. Diesmal blieb der Belgier unversehrt, allein, es fehlten zehn Sekunden zur Spitze. Bester bundesdeutscher Teilnehmer war Peter Hilse, der mit 42 Sekunden Rückstand den 16. Platz belegte. Andreas Kappes, eingangs der letzten Runde noch im Verfolgerfeld, konnte dem hohen Schlußtempo nicht folgen und wurde 1:20 Minuten zurück 24., Rolf Gölz leistete viel Führungsarbeit in den ersten Runden und gab kurz vor Ende auf.

Er war nicht der einzige. Von den 190 Fahrern, die sich bei regnerischem Wetter auf den 226,5 Kilometer langen Rundkurs begeben hatten, kamen gerade 42 ins Ziel, als letzter der Hamburger Dariusz Kajzer mit fast 22 Minuten Rückstand auf Greg LeMond, dessen Zukunft als Radprofi nunmehr noch rosiger aussieht. 30.000 Mark beträgt in etwa der Preis für seinen Auftritt bei einem der „Kirmesrennen“, von denen er gut und gerne 130 pro Saison bestreitet. Und während er in diesem Jahr praktisch ohne Mannschaft seine Triumphe herausfuhr, wird er für die nächste Saison voraussichtlich einen mit mehr als einer Million Dollar dotierten Vertrag mit „Z-Fagor“ abschließen. Der Hinterradlutscher wird zum „Patron“, eine Aussicht, die Fignon schon jetzt das Zöpfchen zu Berge stehen läßt.

Matti