Finger weg von dieser Stadt!

■ In Berlin formiert sich die große Koalition des olympischen Schwachsinns

Wo immer heutzutage eine Stadt olympische Ambitionen hegt, ist der vernünftige Teil der Bevölkerung dagegen. Olympia ist zu einem gigantischen Unternehmen geworden, dessen verheerende Auswirkungen auf die Struktur einer Stadt jeden Wirbelsturm in den Schatten stellen. Selbst in Barcelona, der anfangs so euphorischen Olympiastadt 1992, grassiert mittlerweile Ernüchterung, nachdem sich die Mieten in kurzer Zeit verdreifachten und die galoppierende Yuppisierung der Stadt zügig voranschreitet. Dabei hat Barcelona noch Glück. Zwei Drittel der benötigten Sportanlagen existierten bereits, die Baumaßnahmen hielten sich so einigermaßen in Grenzen.

Anders in Berlin, wo der rot-grüne Senat fest entschlossen ist, die Hirngespinste der sauberen Herren Reagan und Diepgen von Gesamtberliner Spielen im Jahre 2004 in die Tat umzusetzen und zu diesem Behufe eine Projektgruppe installiert hat. Hier existiert buchstäblich nichts. Deutschlandhalle und Olympiastadion besitzen Presseräume von der Größe einer Wohngemeinschaftsküche, in der Eissporthalle könnte allenfalls der Demonstrationswettbewerb im Murmeln ausgetragen werden, und Ost-Berlin ist bislang kaum in der Lage, ein ganz gewöhnliches Fußballänderspiel auszurichten.

Erforderlich wären dagegen etwa 20 bis 30 Hallen mit einem Fassungsvermögen von mindestens 5.000 Zuschauern, dazu ein paar Riesenstadien, Schwimmanlagen, Regattastrecken, nicht zu reden von olympischem Dorf, Verkehrswegen, Pressezentren und Hotelkapazitäten. Sportfunktionäre, Journalisten und Olympiatouristen lassen sich schließlich nicht wie Katholiken und Sänger einfach in Turnhallen und Schulaulen ablegen. Berlin müßte praktisch abgerissen und neu aufgebaut werden. Nur die Mauer könnte stehenbleiben, an irgendwas sollte man sich schließlich orientieren.

Durchlässig müßte sie allerdings schon werden, die Mauer, und das recht bald. 1998 wird entschieden, wer 2004 olympisch wird, einige Jahre Vorbereitung zur Bewerbung sind unabdingbar. Nicht mehr viel Zeit für Momper, Honecker den Gedanken schmackhaft zu machen, daß die Weltpresse ungehemmt in den toten Winkeln des realen Sozialismus herumschnüffelt, daß DDR-Bürger zum Abendessen mal kurz in den Wienerwald gehen und daß die Sendboten des Kapitalismus dafür ohne Visum und Zwangsumtausch die volkseigenen Straßen mit bleifreien Abgasen und niederländischen Fahrrädern verpesten, die Deli-Läden leerfressen und den Genossen ihr sauerverdientes Bier wegsaufen.

Kurzum: Jeder weiß, daß Olympia 2004 in Berlin trotz aller zeitgenössischen Ost-West-Duselei im Gorbi-Jahr ein böser Traum bleiben wird, und das ist gut so. Mit der Einrichtung der von der CDU „voll“ unterstützten Projektgruppe hat sich die große Koalition des olympischen Schwachsinns lediglich ein Schlagzeilenabonnement für die nächsten Jahre gesichert, ansonsten gilt weiter die Devise: Völker der Welt, laßt die Finger von dieser Stadt!

Matti Lieske