: DDR-Fluchtwelle: Der Tag X rückt näher
■ Bundesregierung ordert 50 Eisenbahnwagen bei der Österreichischen Bundesbahn / Ungarns Außenminister nach Ost-Berlin gereist / Budapest dementiert Spekulation um weitere 20.000 DDR-Aussteiger / Ein Sonderbeauftragter Genschers seit Tagen unterwegs
Berlin (taz/afp/dpa) - Eine neue Massenausreise von DDR -müden Bürgern scheint unmittelbar bevorzustehen. Schon für das kommende Wochenende rechnet der Düsseldorfer Sozialminister Heinemann mit der Ankunft von bis zu 6.000 DDR-Aussteigern allein in Nordrhein-Westfalen.
Der Staatssekretär im Budapester Außenministerium, Laszlo Kovacs, hat dagegen die Spekulationen zurückgewiesen, daß am Wochenende zwischen 15.000 und 20.000 DDR-Bürger aus Ungarn in die Bundesrepublik kommen sollen. Der Budapester Rundfunk zitierte Kovacs dahingehend, nur etwa 1.500 DDR-Bürger hätten den Willen geäußert, in den Westen auszureisen.
Der ungarische Außenminister Gulya Horn ist gestern überraschend nach Ost-Berlin geflogen. Nach einem anderthalbstündigen Gespräch mit seinem DDR-Kollegen Fischer erklärte Horn, „selbstverständlich“ sei auch über die Frage der DDR-Flüchtlinge gesprochen worden. Ob eine Lösung in Sicht sei, sagte er nicht.
In Berlin und in Bonn war gestern hinter vorgehaltener Hand zu hören, daß sich die Anzeichen dafür mehren, daß DDR -Staatschef Erich Honecker seine Amtsgeschäfte nicht mehr führen kann. So hätte Kanzler Kohl vergeblich versucht, den DDR-Staatschef an ein Telefon zu bekommen. Regierungssprecher Klein wurde mit den Worten zitiert, er „höre aus allen möglichen Quellen“, der Gesundheitszustand Honeckers sei ernst.
Aus Kreisen verschiedener Hilfsorganisationen hieß es gestern dagegen, in den Notaufnahmelagern in Ungarn hielten sich gegenwärtig schon mehr als 2.000 DDR-Bürger auf. In der DDR enden heute die Sommerferien. Ungeachtet aller offizieller Dementis mehren sich die Anzeichen, daß in Kürze eine große Anzahl fluchtwilliger DDR-Bürger aus Ungarn ausreisen wird. Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) sind nach eigener Darstellung von der Bonner Regierung gebeten worden, zum 6. September 50 Eisenbahnwaggons bereitzustellen.
Ein Sonderbeauftragter von Außenminister Genscher hat sich am Mittwoch mit dem österreichischen Außenminister Alois Mock zu Gesprächen getroffen. Der Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, Michael Jansen, überreichte Mock ein Schreiben, in dem Genscher für die den Flüchtlingen gewährte Hilfe dankt. Jansen pendelt seit Tagen zwischen den Botschaften in Budapest, Wien und Prag.
Die Wiener Regierung beschloß weiter, vorübergehend die Visumpflicht für DDR-Bürger aufzuheben. Wie ein Sprecher im Innenministerium erklärte, sehe das österreichische Gesetz ein solches Vorgehen für „Katastrophenfälle“ oder „humanitäre Notsituationen“ vor.
wg.
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