Die Rückkehr des Abteilungsleiters

■ Eine wahre Geschichte aus Frankfurt

„Die Gesellschaft, in der wir leben, macht keine Geschichte mehr“, meint der französische Philosoph Jean Baudrillard. Die Menschen trauerten den „energiegeladenen Momenten einer verlorengegangenen Intensität nach“. Das zeitgenössische Individuum habe, anders als das heroische Subjet vergangener Tage, keinen projektiven Geschichtsentwurf, keine Zukunftsvorstellung mehr. Es zehrt, so Baudrillard, von seiner Vergangenheit, unterliegt dem Zwang, sich ständig zu erinnern.

Der leidenschaftliche Drang zur Rückbesinnung macht auch vor der jüngsten Vergangenheit nicht Halt. Sie kennt weder Grenzen nach Tabus, und sie ist absolut egalitär: Jeder kann an ihr teilhaben.

So auch Hartmut Riehn, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Gießen. Im 'Uni-Report‘, dem offiziellen Organ der Frankfurter Universität, berichtete er im Juli 1989 ausführlich über den Aufbau eines EDV-gestützten Archivs zur „Protestbewegung Johann Wolfgang Goethe -Universität“. Da eine „detaillierte, umfassende Darstellung der damaligen Ereignisse“ bislang fehle, arbeite er seit Herbst 1988 daran, „diesen Zustand lückenhafter Dokumentation“ zu beheben. Der Universitätspräsident habe ihm dankenswerterweise Zugang zu den Rektorats- und Kuratorialakten gewährt. Daher könne er nun auf über 400 erfaßte und ausgewertete Dokumente zurückgreifen: Flugblätter, Resolutionen, Presseerklärungen, Aufrufe, Disziplinarunterlagen, rechtsaufsichtliche Verfügungen, Berichte über Teach-ins, Urteile, Erlasse und vieles andere mehr. Mit Hilfe eines Textverarbeitungssystems konnte, so berichtet der Verwaltungsrichter, „unter Beachtung eines ausgewogenen Ordnungssystems“ ein Namens- und Sachindex entwickelt werden, der zur Erlangung „möglichst authentischer Schlüsse“ hilfreich sei. Die wiederum müßten selbstverständlich „wissenschaftlichen Ansprüchen standhalten“. Aus den „festgestellten Flugblattaktivitäten“ etwa könnten „weitreichende inhaltliche und qualitative Folgerungen gezogen“ werden. Um die Quelle soziologischer, historischer, politologischer und linguistischer (!) Forschung in Zukunft noch ergiebiger zu gestalten, werden am Schluß alle, die über „entsprechendes Material aus jener Zeit“ verfügen, gebeten, sich bei der Pressestelle der Universität zu melden.

Nur wenige 'Uni-Report'-Leser dürften wissen, daß der Hobby -Archivar aus Gießen selbst ein Teil der Geschichte ist, die nun mit geeigneter Software zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Anlaß geben soll.

Von 1970 bis 1980 war Riehn Leiter der Rechtsabteilung der Johann Wolfgang Goethe-Universität und verfolgte die „damaligen Ereignisse“ mit der gleichen Akribie wie heute. Im unruhigsten Jahrzehnt der im Jahre 1914 gegründeten „Königlichen Universität“ oblag ihm die Aufgabe, für die Wahrung des Rechts auf dem Campus zu sorgen. Einen Großteil seiner Arbeit widmete er jener „Protestbewegung“, die zu Beginn der siebziger Jahre teils abebbte, teils neue Wege suchte. Seiner Tätigkeit in jener Zeit entsprangen weit über hundert Strafanzeigen gegen die „Verfaßte Studentenschaft“ (Allgemeiner Studentenausschuß/AStA) wegen „Wahrnehmung des politischen Mandats“ beziehungsweise Veruntreuung studentischer Gelder und etwa 50 Strafanträge gegen Studentenvertreter wegen Hausfriedensbruchs, Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Freiheitsberaubung und Aufforderung zu strafbaren Handlungen. Mehrfach trat Riehn als Zeuge in Strafverfahren gegen Studenten auf. Weil nach damaliger Rechtsauffassung Verlautbarungen der gewählten Studentenvertreter zu Südafrika, Atomkraftwerken, dem Paragraphen 218 und zum Iran nicht zu den Aufgaben der Studentenschaft zur „Förderung der politischen Bildung und des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins“ gehörten, wurde fast jede AStA-Publikation zum Corpus delicti. Flugblätter zur Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978 - „Fußball ja, Folter nein“ - landeten ebenso auf dem Tisch der Frankfurter Staatsanwaltschaft wie ein Leserbrief der AStA in der 'Frankfurter Rundschau‘ vom 8.September 1976 zur „Disziplinierung von Verteidigern“ oder ein „Uni-Frauen-Info Verhütung, Sexualität, Schwangerschaft“. Neben Zwangsgeldern gegen die Studentenschaft hagelte es Strafanzeigen gegen die verantwortlichen AStA-Mitglieder.

Daß der Justitiar der Frankfurter Universität, der damals nicht selten an der Spitze einer Polizei-hundertschaft nach dem Rechten sah, heute nach Material der „studentischen Protestbewegung“ sucht, drückt mehr aus als die allgemeine Tendenz zur Mumifizierung der Geschichte. Es ist eine flagrante zeithistorische Enteignung, in der - frei nach Freud - der Täter sich mit dem Opfer zu identifizieren trachtet. Geheimste Sehnsucht nach erlebter Wirklichkeit, so scheint es, treibt den Täter zurück an den Tatort. Der aber ist - aller Hard- und Software zum Trotz - für immer verloren.

Reinhard Mohr