Ausreiser und Bleiber marschieren getrennt

■ Auf der Demonstration am Montag in Leipzig trennten sich die Wege: abwandern oder reformieren?

Bereits nach wenigen Metern blieb am Montag abend in Leipzig eine Demonstration für Reformen in der DDR stecken. Die Mehrheit der auf dem Kirchplatz der Nikolaikirche versammelten mehreren hundert Menschen zog es nämlich vor, ihr Anliegen in die Fernsehkameras zu rufen: „Nehmt uns mit in die Bundesrepublik!“ Eine Minderheit der Demonstranten überließ den Ausreisewilligen den Auftritt vor der Kirche und diskutierte am späten Abend in einer anderen Kirche über „Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft“. Und in Ost-Berlin wird in diesen Tagen eine landesweite Koordination der Opposition diskutiert.

Am Nachmittag hatten sich etwa 1.200 Menschen in der evangelischen Nikolaikirche zum Friedensgebet versammelt. In seiner Andacht vermied Superintendent Magirius allzu harsche Kritik an der Staatsführung der DDR. Er beließ es bei der Anmerkung, daß „wir, die wir hier leben und bleiben wollen, darunter leiden, daß nicht gemeinsam nach den Wurzeln gesucht wird, warum Leute das Land verlassen.“

Den sehnlichsten Wunsch vieler GottesdienstbesucherInnen hatten einige von ihnen in ein Buch am Eingang geschrieben: „Wir halten durch bis zum Tag der Ausreise“. Zwei Personen beschränkten sich auf eine neue Kurzformel: „4.9.89, 9.Woche“.

Draußen dann versuchten einige Oppositionelle, die sich nicht zu den „Ausreisern“ zählen, einen Demonstrationszug Richtung Marktplatz zu formieren. Blitzschnell entrollten sie Transparente mit den Forderungen: „Versammlungsfreiheit

-Vereinigungsfreiheit“, „Für ein offenes Land mit offenen Menschen“ und „Reisefreiheit statt Massenflucht“. Noch bevor Stasi-Beamte den Demonstranten die Transparente entreißen konnten, hatten Fotografen und Kameraleute ihre Bilder im Kasten.

Demonstration spaltet sich

Schweigend marschierte die erste Reihe los. Aus den umliegenden Straßen rückten Polizeiketten an. Alles sah danach aus, daß die 800 bis 1.000 Menschen eingekesselt werden sollten. Aber plötzlich klaffte eine Lücke im Zug. Hinten blieben Menschen stehen und riefen: „Wir wollen raus.“ Die Spaltung war perfekt: Hilflos und wütend gaben die vorderen Demonstranten ihren Versuch, durch die Innenstadt zu marschieren auf, die meisten gingen frustriert nach Hause. Einige Aktivisten waren aus Furcht, „vor den Karren der Ausreiser gespannt“ zu werden, erst gar nicht zur Demo gekommen.

Die Zurückgebliebenen wurden nicht müde, sich vor den Kameras zusammenzudrängen und die Hände zum Victory-Zeichen emporzurecken. Vereinzelte Parolen zielten auf Veränderung in der DDR, doch die Stimmung brachte eine Frau auf den Punkt: „Die einzige Veränderung für mich besteht darin, daß ich ausreisen kann.“ Erst als die Fernsehkameras nach zwei Stunden abzogen und auch der letzte Reporter genug geknipst hatte, löste sich die Versammlung allmählich auf. Unter Beachtung roter Verkehrsampeln zogen schließlich gegen 20 Uhr 200 Menschen zum Bahnhof und forderten dort „freie Fahrt nach Gießen“.

Bleibewillige diskutieren

Zu dieser Zeit hatten sich etwa 300 Bleibewillige in der Kirche der reformierten Gemeinde eingefunden, um über einen Vortrag zum Thema Verantwortung für die Gesellschaft zu diskutieren. Pfarrer Friedrich Schorlemmer, Mitverfasser der „20 Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft“ vom Kirchentag 1988 in Halle, zeigte zwar Verständnis für die Ausreisewilligen, meinte aber in ihre Richtung: „Wir haben uns leider nichts Hilfreiches mehr zu sagen.“

Schorlemmer plädierte „nicht für die Emeritierung des Sozialismus, sondern seine Erneuerung“. Entweder sei „der Sozialismus von Peking bis Berlin reformfähig, oder er verschwindet erst mal“, sagte der Geistliche. Die „möglichen und nötigen Reformschritte“ seien „mit der führenden Kraft gemeinsam anzugehen“. Dies hält Schorlemmer nicht für ausgeschlossen, gibt es doch einen „deutlichen Differenzierungsprozeß in der SED“, der indes „öffentlich gemacht werden müßte“. Die „fatale Alternative, bei den Wahlen nur mit Ja oder Nein stimmen zu können“, müsse beseitigt werden: „Stellen sie sich mal vor, bei Wahlen stimmen 50 Prozent mit Nein - dann haben wir keine Regierung mehr.“

In der anschließenden Diskussion äußerten viele Redner Skepsis an der Dialogbereitschaft der SED und beklagten den mangelnden Mut der Reformer in der Partei. Ein Mann kritisierte: „Wir DDR-Bürger warten 15 Jahre auf einen Trabant und sieben Jahre auf einen Kühlschrank, nachdem wir das angemeldet haben. Aber die Demokratie können wir nicht anmelden, sondern müssen sie uns erkämpfen. Wenn wir nicht bald ein Büro selber einrichten für die Opposition, dann gehen noch ein paar Millionen weg.“

Im Gegensatz zu diesem Redner, der wie Schorlemmer und seine Wittenberger Freunde für eine Oppositionpartei eintritt, setzten andere Diskutanten eher „auf die Kraft des Gespräches in der Familie und im Betrieb“. Am Ende der zweistündigen Debatte faßte ein Weißhaariger das Ergebnis zusammen: „Viel war's ja noch nicht, aber wir sind ja immer alle guter Hoffnung.“

Wehrdienstverweigerer

Unterdessen wurde am Rande der Leipziger Messe bekannt, daß in den letzten Wochen über 50 Dresdner Wehrdienstverweigerer aufgefordert wurden, sich einer „Einberufungsüberprüfung“ zu unterziehen. Dies könnte bedeuten, so befürchten Oppositionelle, daß die seit 1985 stillschweigend zwischen Kirche und Staat ausgehandelte Praxis, Wehrdienstverweigerer nicht einzuberufen, aufgehoben werden soll.

Petra Bornhöft (Leipzig)