Bruder Innerlich

■ Die Entsublimierung des Feuilletonisten, oder warum F.J. Raddatz plötzlich sein deutsches Gezweig einbekennt

Fast zwei Druckseiten des 'Zeit'-Feuilletons braucht Fritz J. Raddatz, um zum Punkt zu kommen, „einzubekennen: „Ich bin ein deutscher Patriot.“ Nach spaltenlangen Präliminarien über Kultur und Utopie, Vision und Kühnheit der Geschichte, kann er schließlich nicht mehr an sich halten: „Laßt mir meine Sehnsucht nach Heimat, laßt mir den Geruch von Hecken nicht nur bei der Proust-Lektüre.“

Über die Frage, wer ihm denn verbieten wollte, zwischen Leipzig und Dresden an den Büschen zu schnüffeln, kann nur gemutmaßt werden. Es müssen jedenfalls Leute sein, „die nicht einmal in Sachen Wackersdorf richtig disponieren können“, Versager, die ausgerechnet ihm, dem Ex -Feuilletonchef der 'Zeit‘, jetzt ständigem Kulturkorrespondenten in Paris und dem Rest der Welt, „ein Utopieverbot auferlegen“ wollen. Klar ist nur: Es geht um die „deutsche Einheit“, um die „Wiedervereinigung“.

Aus Raddatz‘ Pamphlet wider die Realpolitiker der deutschen Zweistaatlichkeit, diese denkfaulen und herzensträgen Verwalter von „Milchpfennig, Abgaswerten und EG -Hühnerkeulenquotenregelung“, spricht jener schmerzverzerrte furor teutonicus, der sich stets innerlich sehnt und auflehnt, sich von blutleeren Bürokraten gegängelt und vom übermächtigen Establishment niedergehalten fühlt, am Ende aber doch mit jener „Vision“ zu siegen glaubt, die „mein Herz denkt“. Denn: „alle Tabu-Verordnungen, die mir untersagen wollen meine Ratio und mein Gefühl, meine Wurzeln und mein Gezweig: deutsch“, richten am Ende doch nichts aus gegen das Drängen der Geschichte, die schon die Sklaverei in Amerika abgeschafft, die französische Revolution geboren und den Impressionismus auch unter Kulturbanausen durchgesetzt hat. Das deutsche Herz von Fritz J. Raddatz wabert durch jede Zeile, mal hysterisch - verfolgte Unschuld -, mal pathetisch - im Namen der Menschheit -, und verdirbt Stil wie Syntax der deutschen Sprache.

Die Suada des Weltbürgers Raddatz, der seine Strafversetzung nach Paris (er hatte in der 'Zeit‘ eigenmächtig den Todestag Goethes vorverlegt) mit eindrucksvollen Spesenabrechnungen rächt, ist ein Dokument intellektueller Entsublimierung von hohen Gnaden. Da will etwas heraus.

Die 'Zeit‘ wird ihre Gründe haben, warum sie ein derartiges Machwerk druckt, mit dem, so die redaktionelle Ankündigung, Raddatz seinem Kollegen Martin Walser zur Seite springe, der vor Monaten für eine deutsche „Wiedervereinigung“ plädiert hatte. Spektakuläre Debattenbeiträge werden nicht auf sich warten lassen, und ein freimütiger Diskurs gerät einer Wochenzeitung, deren Führung in den halbamtlich -staatstragenden Händen von Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt und Theo Sommer liegt, immer zur Zierde.

Um so schlimmer für den „Essay“ von Raddatz, der gegen die Phantasielosigkeit und die Unbeweglichkeit der offiziösen Deutschland-Politik selber nur schale Spießbürgerphantasien ins Feld führt. Wie ein renitenter Kleinbürger zum Ende der Weimarer Republik will er seine „Utopie“ haben, will sich bekennen und von allen bösen Mächten dieser Welt erlöst werden. Von was aber träumt er so wagemutig? Etwa von der Freiheit Europas, die im Osten derzeit mehr Vorkämpfer findet als im Westen? Von der gemeinsamen Rettung der Wälder, Flüsse und Seen? Von aufregenden Diskussionen mit Polen, Ungarn und DDRlern, Russen und Tschechen über das Scheitern revolutionärer Utopien und ideologischer Systeme? Vom Aufbau eines europäischen Marktes, der von Moskau bis Madrid reicht, ohne auf dem Elend der Dritten Welt zu gründen?

Nein. Das Herz des F.J. Raddatz denkt an den „Geistes- und Gemütshaushalt einer Nation„; es träumt von Dresden und hört das „trockene Knarren der Fichten in der Mark Brandenburg“.

Aber schon ein flüchtiger Blick könnte F.J. Raddatz lehren, daß der Geistes- und Gemütshaushalt der deutschen Nation selbst Elisabeth Noelle-Neumann vor unlösbare methodische Probleme stellen würde, daß Dresden potthäßlich ist und die Fichten deshalb knarren, weil der schwefelsaure Boden sie nicht mehr halten kann.

Raddatz gehört jener Intelligenzija an, die immer auch Kultur-Schickeria ist, geistige Opposition und sinnstiftendes Establishment. Dieser Spagat lebt von Theorien, die die Wirklichkeit bis ins Feinste sublimieren. Einerseits politisch-moralische Entschiedenheit, andererseits allgegenwärtige Reflexion und ideologische Flexibilität. In Zeiten dahinschwindender theoretischer Sicherheiten und gesellschaftspolitischer Perspektiven steigt der Bedarf an Orientierung und Eindeutigkeit.

Die atemberaubenden Entwicklungen in Polen, Ungarn und der Sowjetunion, besonders aber die Flüchtlingsströme aus der DDR stiften nicht nur im politischen Establishment, sondern auch innerhalb der westdeutschen Bevölkerung und der linksorientierten Intelligenz erheblich Unruhe. Die AL -Debatte über die Frage, ob DDR-Bürger in der Bundesrepublik Asylanträge stellen sollten, statt einfach mit einem (west -)deutschen Reisepaß ausgestattet zu werden (womit sie mit Verfolgten, Hungernden und Gefolterten aus aller Welt „konkurrieren“ müßten), zeigt die Unsicherheit über den Status derer, die als deutsche Flüchtlinge aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland kommen, aber auch die Ratlosigkeit über die Zukunft der beiden deutschen Staaten. Plötzlich wird man gewahr, daß das Desaster des DDR -Sozialismus nicht nur die Legitimation der politischen Führung des SED-Staates untergräbt, sondern zugleich die Existenz eines unabhängigen Staates DDR. Auf die Möglichkeit einer solchen Koinzidenz des Niedergangs war auch im Westen niemand vorbereitet, und so halten die einen krampfhaft an einem abstrakten DDR-Bild fest, bei dem die Souveränität des Staates DDR Priorität genießt, während andere die Stunde des Triumphes näherrücken sehen, in der „Deutschland“ wieder ohne störende Kürzel gesprochen und geschrieben werden darf. Beiden Gruppen ist das treibende Motiv der aktuellen Entwicklungen fremd: ein tiefer, fast körperlicher Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, den keine Fahne und keine Hymne, kein Staatsempfang mit Tschinderassabäng und „Gewehr ab!“ erfüllen kann. Weil sie die Freiheit suchen, verlassen Zehntausende DDR-Bürger ihre Heimat einschließlich der Brandenburgischen Fichten und des Mecklenburgischen Schilfs. Dafür landen sie vielleicht in Duisburg-Ruhrort, wo es ihnen nicht leichtfallen dürfte, ihr deutsches Gezweig wiederzuerkennen, während junge Türken der dritten Emigrantengeneration Schimanski längst als ein Symbol ihrer Heimat betrachten.

Dies ist die Stunde der Verwirrung, also der Klarheit. Die politischen Umwälzungen in Osteuropa haben die westeuropäische Rede vom „Ende der Geschichte“ durcheinandergebracht. Plötzlich scheint es wieder so etwas zu geben wie „historische Augenblicke“ und Aufbrüche in eine noch ungewisse Zukunft (während in den letzten Jahren das kapitalistische Westeuropa die Verlängerung der Gegenwart zur einzigen Zukunftsperspektive erklärte).

Leute wie Fritz J. Raddatz werden immer da konkret, wo sie von ihrer eigenen (beschränkten) Befindlichkeit abstrahieren müßten, und bleiben immer dann abstrakt, wenn sie sagen müßten, was sie eigentlich meinen. Woran erkennt man aber schließlich doch den Patrioten Raddatz, einen ausgezeichneten Kenner von Geschichte und Literatur der Weimarer Republik, Herausgeber der Gesammelten Werke von Tucholsky?

An der Sprache. Sie flieht vor der wirklichen Herausforderung, vor den mutigen und prekären Freiheitsbewegungen inmitten einer Welt, die um ihr Überleben ringt, in ein abstraktes Reich des scheinbar Ursprünglichen, Angestammten, Allerinnersten. Flucht vor überkomplexen Verhältnissen in einfache Identifikation „Schwarz auf Weiß“ sah das schon Kurt Tucholsky im Jahre 1929: „Der Deutsche ist ein Bruder Innerlich und entschuldigt gern einen ungepflegten Stil mit der Tiefe des Gemüts, aus der es dumpf herauskocht. Gott sieht aufs Herz, sagt er dann.“

Wir sehen lieber auf die Finger, Herr Raddatz.

Reinhard Mohr