Klein-Memmingen in Rheinland-Pfalz

Frauenarzt aus Neuwied soll in 79 Fällen gegen den §218 verstoßen haben / Staatsanwaltschaft Koblenz stellt Anklageschrift fertig: Sie beruht im wesentlichen auf einer umstrittenen Interpretation des §218 / Über Anklageerhebung wird demnächst entschieden  ■  Von Gunhild Schöller

Genau ein Jahr, nachdem in Memmingen der Prozeß gegen Horst Theissen eröffnet wurde, zeichnet sich eine neue Hatz gegen einen Frauenarzt ab: nicht im katholischen Bayern, sondern im gemäßigt christlich-liberal regierten Rheinland-Pfalz. Einem Frauenarzt aus Neuwied wirft die Staatsanwaltschaft Koblenz vor, in 79 Fällen bei Abtreibungen gegen die Paragraphen 218 bzw. 219 verstoßen zu haben.

Genauso wie in Memmingen beschlagnahmte und durchschnüffelte die Staatsanwaltschaft die Patientinnenkartei des Arztes. 181 Frauen wurden bei den Zeugenvernehmungen mit einem Fragebogen traktiert, auf dem sie intime Details preisgeben mußten. Obwohl die 1. Strafkammer des Landgerichts Koblenz noch nicht entschieden hat, ob sie die Anklage der Staatsanwaltschaft annehmen wird, ist es äußerst wahrscheinlich, daß es zu einem Strafprozeß kommt: Die Vorwürfe des Staatsanwalts sind massiv, die Beweise in einigen Fällen formaljuristisch schlüssig, so daß die Richter keine andere Möglichkeit haben werden.

In 56 Fällen, so der Leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise in der Anklageschrift, habe der Frauenarzt abgetrieben, ohne „eigene Feststellungen“ zu treffen. Damit ist gemeint: der Frauenarzt habe die soziale Indikation, die auf dem Überweisungsschein eines anderen Arztes stand, ohne Nachfragen akzeptiert. Staatsanwalt Weise stützt sich bei diesem Vorwurf auf die Aussage von 56 Patientinnen, ihr Frauenarzt habe vor der Abtreibung sie nicht nach ihrer Notlage befragt. Daraus schließt der Staatsanwalt, der Arzt habe sich nicht davon überzeugt, daß eine soziale Indikation vorliege. Es ist jedoch äußerst umstritten, ob der abtreibende Arzt verpflichtet ist, die Indikation noch einmal zu überprüfen. Im Wortlaut des Paragraphen 218 ist davon nicht die Rede. Laut Gesetz ist jede Frau, die abtreiben will, verpflichtet, eine Beratungsstelle aufzusuchen, zu einem ersten Arzt zu gehen, der die Indikation ausstellt, um dann bei einem zweiten Arzt den Abbruch vornehmen lassen zu können.

Anders als in Memmingen zweifelt die Staatsanwaltschaft die Notlage der Frauen nicht an und geht davon aus, daß soziale Indikationen vorlagen. Staatsanwalt Weise: „Wir überprüfen die Angaben der Frauen nicht. Sie wurden als Zeuginnen, nicht als Angeklagte vernommen.“ Die Anklage gegen den Arzt lautet deshalb: in 55 Fällen ein versuchtes Vergehen gegen Paragraph 218. In einem Fall jedoch sei der Verstoß gegen den Paragraphen 218 vollendet. Es gebe Beweise aus der Beratungsstelle und einer Arztpraxis, so die Staatsanwaltschaft, daß in diesem Fall keine Indikation bescheinigt worden sei.

Weiter wird dem Neuwieder Frauenarzt zur Last gelegt, er habe in 21 weiteren Fällen abgetrieben, obwohl auf dem Überweisungsschein die Indikation nicht genannt bzw. nicht ausreichend erläutert worden sei. Auf den Überweisungsscheinen, so Staatsanwalt Weise, habe nur „Indikation“ oder „Paragraph 218“ gestanden. Zwar räumte Weise gegenüber der taz ein, daß im reformierten Paragraphen 218 nirgendwo geschrieben steht, welche Form die Indikation haben muß, es gebe bislang auch keine Rechtsprechung zu diesem Bereich. „Aber es gibt dazu juristische Kommentare, die sogar eine richtige Begutachtung fordern.“ So weit will man in der Koblenzer Staatsanwaltschaft nicht gehen - man hält jedoch eine einzelne Begründung und eine Angabe darüber, wie lange die Schwangerschaft dauere, für unabdingbar.

Hinter diesem Vorwurf gegen den Frauenarzt stehen die Aussagen von Ärzten, gegen die ursprünglich selbst Ermittlungen liefen. Diese Ärzte standen unter dem Verdacht, ohne hinreichenden Grund Indikationen ausgestellt zu haben, weil sie sie nicht begründet hatten. Vor dem Staatsanwalt sagten diese Ärzte nun aus, sie hätten gar keine Indikation festgestellt, sondern die Schwangere lediglich zu dem Neuwieder Frauenarzt überwiesen. Die Ermittlungen gegen diese Ärzte wurden mittlerweile eingestellt.

Schließlich soll der Frauenarzt in zwei Fällen abgetrieben haben, obwohl die Mindestfrist von drei Tagen zwischen Beratung und Eingriff noch nicht vergangen war.

Zum erstenmal wurden die Praxisräume des Neuwieder Frauenarztes im November 86 durchsucht. Mit der Begründung, es liege der dringende Verdacht vor, daß er mit den Krankenkassen betrügerisch abrechne, wurde die Patientinnenkartei beschlagnahmt. In diesem Zusammenhang wurden erstmals auch Patientinnen als Zeuginnen vernommen. Als daraufhin bei den Staatsanwälten der Verdacht aufkam, der Frauenarzt habe nicht nur Kassenbetrug begangen, sondern auch illegal abgetrieben, wurden die Praxisräume zum zweitenmal - im April 87 - durchsucht und gezielt Karteikarten zum Schwangerschaftsabbruch beschlagnahmt.

Dann entwarf man in der Staatsanwaltschaft Koblenz - genau wie in Memmingen - einen Fragebogen, der keine Peinlichkeit ausließ. 181 Frauen mußten als Zeuginnen Auskunft darüber geben, ob sie über Adoption nachgedacht hätten oder der Arzt sie auf diese Möglichkeit hingewiesen hätte. Sie mußten beantworten, wer „die treibende Kraft“ beim Schwangerschaftsabbruch gewesen sei, und bekennen, ob sie dem Arzt die Wahrheit oder Unwahrheit über ihre Notlage erzählt hatten. Schließlich wollte man wissen: „Würde die Zeugin noch einmal abtreiben?“

„Keine Memminger Verhältnisse“ wolle er in seinem Land, beschwor der rheinland-pfälzische Justizminister Peter Caesar (FDP) die Öffentlichkeit, als diese skandalöse Vernehmungspraxis im Oktober 88 bekannt wurde. Immer wieder betonte er, daß - ganz anders als in Memmingen - nicht gegen die Frauen ermittelt werde, sondern ausschließlich gegen einen Arzt.

„Das Klima der Verunsicherung für Frauen und ihre Ärzte, wie es hier geschaffen wird, ist doch das gleiche wie in Memmingen“, schätzt Ulla Ellerstorfer, Vorsitzende der pro familia Rheinland-Pfalz, die Situation ganz anders ein. Die Ärzte hätten mittlerweile eine berechtigte Angst, Indikationen auszustellen. Außerdem sei jede Aussage einer Frau potentiell gegen sie zu verwenden. Es könne keinerlei Garantie geben, daß nicht gegen einzelne Frauen ermittelt werde.

Mit ihrem Vorwurf, die Indikationsstellung sei „nicht eindeutig“ oder nicht ausführlich genug, würden die Weichen für eine Verschärfung des Paragraphen 218 gestellt, kritisiert die grüne Landtagsabgeordnete Gisela Bill. Der Frauenarzt selbst gibt bislang keine Stellungnahme zu den Vorwürfen ab.