Vom Leben in der Schlange und der Jagd nach Devisen

■ Momentaufnahmen aus Bremens Partnerstadt Gdansk: Der stille Abschied der Kommunisten von der Macht / Für Touristen ist Polen fast umsonst

Nein, der blechtrommelnde Oskar Matzerath hätte in seiner Heimatstadt nicht einmal mehr kleine Freuden. Rot-weiße Trommeln? Das Musikgeschäft in der Gdansker Innenstadt ist fast leergekauft. Nur noch Plastikflöten und für Gitarren die hohe E-Seite. Und schäumendes Brausepulver? Wenn Oskar der Zwerg ein paar Devisen, Dollar oder Mark erbettelt oder erhandelt hätte, dann könnte er in den polnischen Intershops, Pewex geheißen, sicherlich fündig werden. Für Zloty aber gibt es derlei Köstlichkeiten nicht.

Für Zloty gibt es überhaupt nur wenig zu kaufen. Und das, was es gibt, wird von Woche zu Woche teurer. Um 300 Prozent durchschnittlich sind seit dem Frühjahr die Preise für Lebensmittel gestiegen, Brot und Kartoffeln weniger, Fleisch mehr. Das Angebot an Fleisch ist nun zwar etwas besser geworden, zahlen aber können es nur noch die wenigsten. Denn anders als die Preise sind die Löhne nur unwesentlich angehoben worden. Ein Facharbeiter verdient derzeit etwa 120.000 Zloty, umgerechnet keine 30 Mark. Ein Rentner hat monatlich 40.000 Zloty.

„Warum soll ein Pole arbeiten? Er hat kein Motiv.“ Zbignien Woychekowski arbeitet in Gdansk für eine Presseagentur. „Sehen Sie. Ein Pole braucht sich nur ein Visum für die Bundesrepublik zu besorgen und dort einen Monat schwarz zu arbeiten. Sagen wir, er verdient nur 1.000 Mark. Rechnen wir. Er hat dann drei mal soviel verdient, wie in einem Jahr in Polen.“

Ungezählt die Taktiken, mit denen deutsche TouristInnen überredet werden sollen, ein paar Pfennige oder Mark zu verschenken. In der Kirche kommt eine Frau auf mich zu, erzählt radebrechend von ihrer an Epilepsie erkankten Tochter, zeigt eine leere Packung Valium. „Brauche zwei Mark für Medikament.“ In der Stadt warten kleine Gruppen von Kindern auf westlich Gekleidete: „Kaufen Postkarten. Zehn Stück eine Mark.“ - „Hier, Solidarnosc-Sticker, auch eine Mark.“ Aufschlag gegenüber den „normalen“ Preisen am Kiosk: gut 500 Prozent.

Auch der Taxifahrer hat seinen Trick. „Nach Zoppot? Na gut, kostet aber 10 Mark.“ Für 15 Kilometer? Wer mag da nein sagen. Sein Kollege, mit dem wir zurückfahren, läßt die Zloty-Uhr laufen. Kostenpunkt umgerechnet eine Mark.

„Wissen Sie, was das ist?“,

fragt der Taxifahrer. „Eine Schlange für Schnaps. Hier ist immer Schlange. Schlange für Schuhe, Schlange für Hosen, Schlange für Bücher, Schlange für Brot.“ Der Taxifahrer ist das Leben in der Schlange leid. „Meine Kinder sind schon in Deutschland, in Bayern. Ich hab‘ alle Papiere bereit. Ich geh wohl auch bald.“

Das Suchen nach dem Glückskauf im mangelhafen Angebot prägt die Lebensgewohnheiten. Polen kaufen auf Vorrat. Hosen werden nicht gekauft, wenn Hosen gebraucht, sondern wenn sie gerade angeboten werden. Beim Markt hat ein LKW angehalten, bis obenhin voll mit Gläsern. Sofort bildet sich eine Menschentraube. Wer ein 12er Pack ergattern kann, zieht zufrieden von dannen. Nach einer Stunde ist der Laster fast leergekauft. „Wenn wir unser System in die Sahara exportieren würde“, hat Lech Walsa vor kurzem gesagt, „dann gäbe es dort bald keinen Sand mehr.“

Das System prägt auch das Verhalten der Trinker. In den wenigen Kneipen, in denen es Bier gibt, kaufen sich die Männer gleich einen ganzen Vorrat für den langen Nachmittag von drei, vier, sechs, acht Flaschen. Was man hat, kann niemand wegnehmen.

Geschichtsträchtige Tage, nicht nur wegen des 50sten Jahrestages des Kriegsausbruches. Der 31. August ist der neunte Jahrestag des ersten Übereinkommens zwischen der polnischen Regierung und der Solidarnosc. Betriebsgruppen der Solidarnosc aus allen Landesteilen Polens sind angereist. In bunten Trachten marschieren sie vor der Lenin -Werft, dem Geburtsort der Gewerkschaft, auf, jede Gruppe mit eigener Standarte. Häufigstes Motiv auf dem bunten Tuch: Der Schriftzug der Solidanosc und die Jungfrau Maria. „Solidarnosc, Solidarnosc“, skandiert die

Menge. Finger, zum Siegeszeichen gespreizt, soweit das Auge reicht. Lech Walesa spricht, eher ruhig und verhalten, der Bischof von Gdansk liest die Messe. 15.-, 20.000 Menschen gehen in die Knie.

Gdansk ist eine von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) regierte und verwaltete Stadt. „Noch“, sagt Journalist Woychekowski. Denn im nächsten Jahr sind Kommunalwahlen. Bereits jetzt scheint die PVAP resigniert zu haben. Ihre Symbole jedenfalls mag sie nicht einmal mehr zum 50. Jahrestag des deuschen Überfalls zeigen. Die Stadt ist mit den rot-weißen polnischen Fahnen geschmückt. Auch der Solidarnosc-Schriftzug ist allgegenwärtig. Die PVAP aber bescheidet sich mit zwei Fahnen am Parteihaus.

Auch im kommunistisch regierten Rathaus ist die Soldarnosc vertreten, mit einer Fotoausstellung, die die Dynamik der letzten 20 polnischen Jahre deutlich macht.

1970: Menschenmassen in den Straßen. Gegenüber Panzer. Wasserwerfer, ein Feuerball. Ein Toter wird weggetragen. In den Gesichtern Trauer, Verzweiflung, Wut, Fassunglosigkeit.

1980: Solidarnosc-Parolen vor der Leninwerft. Streikende, lachende Arbeiter. Lech Walesa, betende Frauen. Blumen unter dem Bild des Papstes. Lech Walesa jubelt. Der Bischof, das Kreuz.

Dezember 1981: Panzer vor der Werft. Wieder Tränengas. Ungläubiges Entsetzen. Rauchbomben. Und auch 1988 noch Straßenschlachten, brennende Barrikaden.

Herbst 1989: Der Sejm, das polnische Parlament. Jaruselzki und sein Opfer vergangener Tage, Lech Walesa nebeneinader sitzend. Tadeusz Mazowiecki, allein auf der Regierungsbank. Den Kopf aufgestützt.

Im Seitenschiff der Marienkir

che, einer riesigen Backstein kirche, in die 25.000 Menschen passen, informiert eine Ausstellung über Kriegsausbruch und -verlauf. Daß es die Deutschen waren, die am 1. September den Überfall starteten, wird eher der Volständigkeit halber vermerkt. Thema der Ausstellung ist ein anderes: der Hitler-Stalin-Pakt, der Überfall der roten Armee auf Polen, nur 17 Tage nach dem Überfall der Nazis. Sowjetische Kriegsverbrechen werden ausführlich dokumentiert. Vorarbeiten, um die polnische Geschichte in Teilen neu zu schreiben. Der Panzer der siegreichen roten Armee wurde ein paar Tage vor den Gedenkfeierklichkeiten von der Westerplatte entfernt.

Was kostet die polnische Welt? Den Touristen aus der Bundesrepublik fast nichts. Die Warschauer Währungsstrategen haben sich entschlossen, den Wechsellkurs des Zloty seinem realen Wert anzupassen, um so den ausufernden Schwarzmarkt ein bißchen unter Kontrolle zu bekommen. Die Folge: Die Mark ist jetzt etwa 20 Mal soviel wert wie noch vor einem halben Jahr. Und der Kurs steigt täglich. Für 20 Mark umgetauscht in Zloty gibt es:

-eine Pizza,

-drei Bier,

-einen Kaffee,

-vier Schallplatten,

-zwei Plüschteddys,

-fünf bespielte Kassetten,

-zwei Schachspiele,

-10 Postkarten plus Porto.

Polen, das ist inzwischen ein Land, das für ein paar Handvoll Mark oder Dollar aufgekauft werden kann, Gdansk, eine Stadt, die für eine Handvoll Mark oder Dollar aufgekauft werden möchte. Der im Rathaus für Wirtschaftspolitik Zuständige, erzählt ein polnischer Journalist, setzt auf radikalen Verkauf der Staatsbetriebe. Mit ausländischem Kapital soll die Wirtschaft modernisiert werden. „Bei uns kann man richtig Geld verdienen“, ruft ein fröhlicher Kommunist, der Stadtpräsident Kazimierz Rynkowski, dem Bremer Senator Franke zu, als der in einer Rede bescheidene Wirtschaftshilfe verspricht.

1945 war Gdansk zu 90 Prozent zerstört. Inzwischen ist die Stadt fast völlig wieder aufgebaut. Gdansker Restauratoren haben sich alle Mühe gegeben, das Rathaus, die riesige Backsteinkirche St. Marien, die vielen Tore, Speicher, Wohnhäuser, ganze Straßenzüge originalgetreu wieder aufzubauen. Historisch auch schon nach 8 Jahren: Das Denkmal der Werftarbeiter vor der Leninwerft. 30 Meter hoch das Stahlkreuz, quergeschlagen ein Anker, in Polen Symbol der Hoff

nung. Die Hoffnug für die Leniknwerft ruht in diesen Tagen auf den Schultern einer Anerikanerin aus Polen. Barbara Johnson heißt die Dame, ist Witwe und Alleinerbin eines Milliardärs, der sein Geld in Kosmetik gemacht hat, und vor allem Exil-Polin. Johnson möchte mit ihrem Geld die traditionsreiche Werft vor dem Bankrott retten. Bis Ende des Jahres soll das neue Konzept klar sein. Dann wird auch der Name Lenins getilgt und wahrscheinlich durch den Namen Johnson ersetzt werden.

Joachim Wentz fährt seit 1982 Medikamente und Kleidung nach Polen. Er berichtet über die Situation im Gdansker Universitätskrankenhaus: „Auf dem Medikamentensektor wird es immer schlechter. Die polnische Arzneiindustrie ist völlig runter. Kunststoffprodukte - absolut null. Einwegspritzen, OP-Handschuhe, Nahrmaterial, Braunülen, Infusionsbestecke fehlen. Es fehlt Verbandsstoff. Es fehlen sogar Schmerzmittel.

Es gibt bei den Ärzten eine gewisse Schamgrenze. Über manche Mängel mögen die nicht sprechen. Aber ich weiß, daß auf einer gynäkologischen Station nur sechs Paar Gummihandschuhe sind. Die werden dann wieder steril gemacht. Bei einer Fahrt, die länger zurücklieget, haben sie die Handschuhe, die wir mitgebracht haben, sofort in den OP-Saal gebracht. Es fehlt auch an Ärzte- und Schwesterkitteln. Wenn das bei uns ausrangiert ist, reparieren die sich das. Ein geflickter Kittel

ist ja immer noch besser als überhaupt keiner. Es fehlt an allen Ecken und Enden.“

Die Partnerschaft zwischen Bremen und Gdansk ist inzwischen im 13. Jahr. Als erste bundesdeutsche Stadt traute sich Bremen 1976 symbolisch die Freundschaft zu einer polnischen Stadt zu suchen. Nach Verhängung des Kriegsrechtes war die Partnerschaft schweren Belastungen unterworfen. Bremen hatte Flüchtlingen aus den Reihen der Solidarnosc mit Asyl und Büro geholfen. Darauf fror die Gdansker Stadtregierung die Kontakte für mehr als drei Jahre fast völlig ein. Inzwischen ist der Kulturausstausch, gerade zum 1. September 1989, wieder recht lebhaft geworden. Die Bremer Pfadfinder unterhalten Kontakte zu Gdansker Pfadfindern. Es gibt Kontakte von Hochschule zu Hochschule, gewerkschaftliche Gruppen besuchen sich gegenseitig.

Was bislang völlig fehlt: Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Einer Lieblingsidee der Gdansker konnten die Bremer bislang nicht allzuviel Sympathienm entgegen bringen: der Einrichtung eines gemeinsamen Hauses Bremen-Gdansk auf der alten Speicherinsel, mit Becks Bier und Jacobs Kaffee und was Bremen sonst noch zu tun hat. Ein Treffpunkt für Honorationen und sonst nichts, befürchtete Senatssprecher Reinhold Ostendorf und gab sich alle Mühe, den Polen diese Pläne auszureden. Statt dessen nahm er eine Liste polnischer Unternehmen mit, die an einer Zusammenarbeit mit Bremer Unternehmen interessiert sind. Mit dieser Aufstellung soll jetzt die Bremer Handelskammer Interessenten akquirieren. Und am 25. September, wenn Gdansks Stadtpräsident Rynkowski nach Bremen kommt, soll eine Rahmenvereinbarung über wirtschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet werden, ein Abkommen, das sich in allgemeinen Absichtserklärungen erschöpfen wird.

Die Gdansker Armut ist relativ. Zur DDR-Grenze hin, beispielweise wird aus der Armut Elend. Sterbende Dörfer links und rechts der Durchgangsstraße. Dörfer, die ausschließlich aus verfallenden Häusern bestehen. Und auch die ökologische Katastrophe bahnt sich hier nicht mehr nur an. Sie ist da. Die Bäume, Birken, Buchen und Eichen, Straßenbäume und kleine Wälder, sind, wenn sie überhaupt Blätter tragen, bereits jetzt Anfang September braun.

Holger Bruns-Kösters