Masse und Macht: Was folgt auf Karajan?

Nach der Ernennung Gerard Mortiers als Karajan-Nachfolger in Salzburg wird nun auch in der Berliner Philharmonie gewählt: streng geheim und demokratisch wie immer in der Orchester-Republik / Unser Tip: Lorin Maazel wird's / Doch damit sind noch längst nicht alle Probleme gelöst  ■  Von Christiane Peitz

Berlin (taz) - Nun haben sie es plötzlich eilig. Als sich im Mai, kurz nach Karajans Kündigung, die Meldungen überschlugen, als die 'Berliner Morgenpost‘ die Karajan -Nachfolge-Kandidaten gleich in Serie vorstellte und selbst die 'New York Times‘ schon wußte, wer es werden wird (James Levine nämlich), setzten die Berliner Philharmoniker den Gerüchten eine fast schon souveräne Gelassenheit entgegen. Man werde sich, nach den Erfahrungen mit Karajan, Zeit lassen, hieß es aus dem goldenen Haus am Tiergarten, sogar von einer Trennung der Funktionen künstlerischer Leiter und ständiger Dirigent war die Rede. Schließlich handelt es sich bei den Berliner Philharmonikern um eines der Spitzenorchester der Welt, das, wie beim Karajan -Gedenkkonzert am Sonntag abend zu hören war, zwar nach wie vor perfekt und routiniert sein Repertoire beherrscht, aber längst nicht mehr ist, was es sein möchte: eins der besten. Warum also nicht eine Saison lang auf die Gastdirigenten, unter denen sich alle in Frage kommenden Kandidaten befinden, ein Auge werfen? Warum nicht erst die vom ständigen Dienern vor dem Maestro in Mitleidenschaft gezogene (und für ein Orchester dieses Ranges außergewöhnliche) Selbstverwaltung auf Vordermann bringen? Warum nicht endlich die leidige Frage der Intendanz klären: gegen den jetzigen Intendanten Hans G. Schäfer liegen Dienstaufsichtsbeschwerden und Mißtrauensvoten von seiten der Musiker vor. Ihm wurde vorzeitig gekündigt.

Nun soll doch im Oktober schon gewählt werden. Offenbar fürchten die Musiker die öffentliche Ungeduld, treibt sie die Angst, als unentschlossen zu gelten. Jedenfalls erläutert Orchestervorstand Klaus Häussler stolz den streng demokratischen und geheimen Wahlmodus, auf den man sich noch vor der Sommerpause geeinigt hat. Die Prozedur nimmt sich aus wie ein Konklave: Jedes der 120 Orchestermitglieder hat bereits im Juli drei Wunschkandidaten notiert. Die bei einem Notar hinterlegten Stimmzettel werden Anfang Oktober geöffnet. Die Anwärter mit den meisten Stimmen werden auf einer Orchesterversammlung im ersten Oktoberdrittel benannt, in alphabetischer Reihenfolge, und diskutiert. Nicht einmal die Musiker erfahren die genaue Rangfolge nach dem ersten Wahldurchgang. Es folgt die zweite geheime Wahl, bei der jeder Musiker noch einen Namen nennen darf. Die Prozedur wird so häufig wiederholt, bis einer der Kandidaten eine „qualifizierte Mehrheit“ erlangt. Ob absolute oder Zweidrittel-Mehrheit, darüber haben die Musiker wahrscheinlich in ihrer gestrigen Versammlung befunden.

Häussler erläutert die Gründe für das komplizierte Verfahren: Da die in Frage kommenden Herren als Gastdirigenten in der Philharmonie ein- und ausgehen, könnte es ihrer Zusammenarbeit mit dem Orchester schaden, wenn etwas über die Rangfolge öffentlich würde. Strengste Diskretion also, damit niemand sich beleidigt aus Berlin zurückzieht.

Die Neuen

Wenn es nach den Medien ginge, wäre die Wahl schon gelaufen: James Levine sei „im Anflug auf den heiligen Stuhl“, hieß es Ende Mai im 'Spiegel‘. Und vor einer Woche enthüllte die 'Berliner Morgenpost‘, Levine habe in Luzern verlauten lassen, er sei seines Jobs an der New Yorker Metropolitain Opera müde: Immerhin ist der 44jährige Amerikaner dort seit 1973 Chefdirigent.

Die Vorschußlorbeeren für das „Riesenbaby aus Ohio“ ('FAZ‘) und die durchaus als Hinweis in eigener Sache zu verstehende Meldung aus Luzern haben einen handfesten marktstrategischen Hintergrund: James Levine ist fest in Händen von Ronald Andrew Wilford, dem Präsidenten der weltweit mächtigsten E -Musik-Agentur Cami, mit der auch Karajan seine Geschäfte abwickelte. Wilford sähe Levine gerne in Berlin; der Mogul entdeckte den profitträchtigen Lockenkopf, als er noch Assistent von George Szell in Cleveland war, finanzierte und organisierte fortan seine Karriere. Levine - ein Cami -Geschöpf: Kein Wunder, daß alles, was er auf Konserve einspielt, exklusiv von Cami verwertet wird. Nach dem kometenhaften Aufstieg des Jung-Stars an der Met und nachdem Karajan ihn in Salzburg und Berlin zum Kronprinzen gekürt hatte, wäre der Posten in Berlin genau das, was in Levines Karriere noch fehlt. Pikantes Detail: Arthur Gelb, der Managing-Editor der 'New York Times‘, die ebenfalls schon im Mai für Levine getrommelt hatte, ist der Vater von Peter Gelb, dem Präsidenten von Cami-Video, der wiederum Levine nicht zuletzt wegen dessen umsatzstarken Video-Departements der Met zugetan ist. Sollte Levine, den die Philharmoniker bestens kennen - im Mai dirigierte er das erste Konzert des West-Orchesters in Ost-Berlin - tatsächlich gewählt werden, wäre die Stadt auch weiterhin fest in den Händen der Cami -Manager. Über 600 Künstler und Ensembles hat die Agentur unter Vertrag. Wenn in der Philharmonie etwas geschieht, was Wilford nicht paßt, wird so manche/r Solist/in für Berlin plötzlich keine Zeit mehr haben. Es ist zu hoffen, daß die Musiker sich diesem Druck nicht beugen: nach jahrzehntelanger Karajan-Willkür müßten ihnen die Folgen bestens vertraut sein.

Große Chancen werden den drei M's eingeräumt: Maazel, Mehta, Muti. Der 59jährige Amerikaner Lorin Maazel ist zur Zeit „nur“ Chef des Pittsburgh Symphony Orchestras und musikalischer Leiter des Orchestre National de Paris. Ein Wunderkind und Tausendsassa: Schon mit zehn dirigierte er die Philharmoniker in Los Angeles; vor drei Jahren absolvierte er eine Tournee mit 200 Konzerten in 22 Ländern

-Weltrekord. 1982, bei seinem Antritt als Chef der Wiener Staatsoper, versprach er „mehr Musik aus diesem Jahrhundert“, schrieb einen Kompositionswettbewerb aus und leitete Reformen ein. Die Wiener reagierten mit Flugblättern - „Musik statt Maazel“ - und einer Medien-Kampagne, die der gegen Peymann und Bernhard in nichts nachstand. Maazel kantete zurück, beschimpfte Unterrichtsminister Zilk als „gefährlichen Größenwahnsinnigen“ und ging, kaum daß er gekommen war. Eine Geschichte, die für ihn spricht. In den 60er Jahren war Maazel Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin und leitete das Radio-Sinfonieorchester; er kennt also die Stadt. Die Gefahr bei Maazel: er könnte, wie immer viel auf Reisen, zu sehr durch Abwesenheit glänzen.

Von Zubin Mehta (53), der wie Maazel nicht bei Wilford unter Vertrag steht, verlautet derweil, er sei seines Jobs als Chef der New Yorker Philharmoniker müde, sein Vertrag läuft 1990 aus. Andererseits ist er zugleich Chef des Israel Philharmonic Orchestra, ein Posten auf Lebenszeit. Auch der Inder, berühmt für seine Klangfarbenkünste und Dirigent der Filmmusik von Star Wars, hat in New York als Nachfolger von Pierre Boulez viel Neue Musik gespielt. Kenner der Szene meinen zwar, Mehta habe kein Interesse an der Stelle in Berlin und sei in Jerusalem zufrieden, dagegen spricht jedoch seine öffentliche Bekundung, daß er in New York aufhören wolle.

Scala-Chefdirigent Ricardo Muti (48), häufig Gast in der Philharmonie, Cami-Vertragspartner und Ersatzmann in Salzburg nach Karajans Weigerung im April, vor den Philharmonikern auch nur noch eine Note zu dirigieren, könnte seinen Job in Mailand mit dem in Berlin vereinbaren: die Saison an der Scala beginnt erst im Dezember. Wichtige Termine wie Eröffnungskonzerte bzw. Premiere überschneiden sich also nicht. Andererseits hat der als eher konservativ geltende Neapolitaner, berühmt für sein Brio und seine Selbstinszenierungen erst im letzten Monat seinen Vertrag beim Philadelphia Orchestra unbefristet verlängert.

Aber wer weiß: „Jeder Dirigent, der Ihnen sagt, daß er an den Berliner Philharmonikern nicht interessiert ist, der lügt.“ Der Satz stammt von Daniel Barenboim, auch er wird immer wieder als der heiße Tip gehandelt. Dabei hat er nach seinem Rausschmiß aus der Pariser Bastille soeben einen Vertrag in Chicago unterschrieben: Diese beiden Posten könnte nicht einmal Maazel unter einen Hut bringen.

Bleiben noch Abbado (56), Ozawa (54), Giulini (75), eventuell Haitink (60). Namen, die die Experten unter „ferner liefen“ abhandeln oder als Kompromißkandidaten bezeichnen. Außer Giulini sind sie alle bei Wilford unter Vertrag: der als links geltende Wiener Opern-Chef Abbado (in Italien organisierte er mit Luigi Nono Konzerte für die Werktätigen, sein Credo: „Ich möchte dem bürgerlichen Publikum beibringen, daß die Musik nicht bei Puccini endet“), der sportliche Exot und Karajan-Liebling Ozawa, der Ästhet und Katholik Giulini, der kaum Platten einspielt, seit 1981 keine Opern mehr dirigiert und sich auch sonst vom Betrieb fernhält, und der solide Mahler-Spezialist Haitink, zur Zeit Chef der Londoner Covent Garden Opera.

Von Außenseitern wie etwa Michael Gielen, der vor Gary Bertini die Frankfurter Oper in eines der spannendsten Musiktheater Europas verwandelt hatte, oder von Nicolaus Harnoncourt, der seit Jahren durch ungewöhnliche Interpretationen Aufsehen erregt, spricht leider niemand. Sie sind keine Stars, sprich: nicht profitträchtig. Der internationale Dirigenten-Verschiebebahnhof funktioniert nach ähnlichen Gesetzen wie der Personenhandel im Fußballgeschäft.

Verhandlungen

Mit allen Dirigier-Anwärtern hat der Orchestervorstand bereits Vorgespräche geführt, die Musiker wissen schon, wer den Job partout nicht will. Der Wunschkandidat jedenfalls wird dem Kultursenat bekanntgegeben, Anke Martiny muß dann verhandeln. Um die Vertragsdauer (auf keinen Fall lebenslänglich, verlautet es aus Senat und Orchester), um die Menge der zu dirigierenden Konzerte, um Anwesenheitspflicht für den Dirigenten und die Rechte des Orchesters. Zwar wird der Vertrag ausschließlich zwischen Senat und Dirigent abgeschlossen, aber bei den Verabredungen werden die Musiker ein Wörtchen mitzureden haben, da sind sich der Senats-Musikbeauftragte und die Orchester -Vorständler einig.

Auch die Gage ist Verhandlungssache. Mehlitz geht davon aus, daß über Geld kaum spekuliert werden muß. Schließlich „bieten wir kein Billigprodukt, sondern eines der interessantesten Orchester der Welt“. Verwunderliche Gelassenheit: Der Krach um Daniel Barenboim in Paris, der für die Leitung der Bastille-Oper ein Grundgehalt von 1,5 Millionen DM beziehen sollte, ist noch kein Jahr alt; auch in den USA sind Dirigentengehälter von einer Million keine Seltenheit. Selbst wenn Mehlitz recht hat: Karajan, dessen Gehalt sich im Vergleich eher bescheiden ausnahm, hat sich mit Hilfe der Berliner Philharmoniker im Lauf seines Lebens fast eine halbe Milliarde Mark zusammendirigiert; trotzdem zahlt die Stadt Berlin seiner erbenden Witwe nun eine Pension. Mit zirka 20 Millionen DM wird das Orchester subventioniert, Steuergeldern aus Berlin und vom Bund, da möchte man doch wissen, wofür genau die Millionen hingelegt werden.

Der Intendant

Ganz abgesehen davon, daß schon Intendant Peter Girth, Schäfers Vorgänger, seit seiner vorzeitigen Kündigung im Zusammenhang mit dem Skandal um die Klarinettistin Sabine Meyer, eine ansehnliche Pension bezieht. Und der jetzige Intendant Schäfer wird vom Streit um seine Person vermutlich ähnlich profitieren. Aber, so Mehlitz, das seien interne Personalfragen. Als ob man nicht gerade jetzt über die Notwendigkeit eines Intendanten diskutieren müßte. Traditionsgemäß muß er es allen recht machen, dem Chef, den Musikern und dem Senat; die Konflikte sind vorprogrammiert.

Streit zwischen Karajan, Intendant und Orchester hatte es in der Vergangenheit immer da gegeben, wo die Kompetenzverteilung in der Verwaltungsordnung von 1952 vage formuliert ist. Trotz nachträglicher Zusatz-Statuten sind viele Details nach wie vor unklar, in der Regel genau da, wo das Mitspracherecht des Orchesters gefragt ist. Mit diesen Erblasten wird sich der Neue herumschlagen müssen. Nicht zuletzt ist da noch die Frage, wo denn der Zirkus Karajani 1991 seine Zelte aufschlagen soll, wenn der Scharounbau wegen Asbests geschlossen wird.