Schadensbegrenzung oder politischer Racheakt?

Klaus Bölling, bis 1982 Ständiger Vertreter in Ost-Berlin, analysiert die Lage der SED nach der Budapester Entscheidung  ■ I N T E R V I E W

taz: Welche Auswirkungen auf das Verhältnis Ungarn-DDR wird die Entscheidung der Budapester Regierung haben, die DDR -Flüchtlinge ausreisen zu lassen?

Klaus Bölling: Die Entscheidung der ungarischen Regierung wird von den unbelehrbaren Bunkerkommunisten in Ost-Berlin nicht bloß als ein „acte peu amicale“ empfunden, wie das die Diplomaten feinsinnig nennen. Freundschaftlich waren die Beziehungen zwischen der DDR-Führung und Budapest schon unter dem Janos Kadar nicht mehr. Das SED-Politbüro scheint eben noch gehofft zu haben, daß die poststalinistischen Gesinnungsfreunde im ungarischen Innenministerium die Massenausreise würden blockieren können. Jetzt, da sich die Reformkommunisten gegen die Sicherheitsfunktionäre durchgesetzt haben, würden die Hardliner wohl am liebsten die diplomatischen Beziehungen zu Ungarn abbrechen. Das werden sie natürlich nicht tun, weil „Schadensbegrenzung“ für die DDR wichtiger ist als politische Racheakte. Es hilft der SED auch nicht weiter, daß sie intern als den eigentlich Verantwortlichen abermals den sowjetischen Generalsekretär identifizieren. Sie sind in einer beinahe heillosen Situation, denn von dem relativen internationalen Ansehen, das sich Honecker trotz Mauer und vielfältiger Repressionen im Inneren mühsam hat erwerben können, bleibt nicht viel übrig, wenn die DDR jetzt Sanktionen gegen Ungarn erwägt.

Kann die DDR überhaupt noch Druck auf Ungarn ausüben? Vermuten Sie, daß andere realsozialistische Länder Druck auf die Ungarn ausüben werden?

Der DDR-Tourismus ist für Ungarn kein ganz unwichtiger Faktor gewesen. Das kann durch westdeutsche Hilfe kompensiert werden. Wenn die Führung die Menschen bald nicht mehr nach Ungarn reisen läßt, wäre das nur eine weitere und schwere Bedrückung für die DDR-Deutschen. Ich kann mir gut vorstellen, daß das SED-Politbüro jetzt eine Sondersitzung des Politischen Komitees des Warschauer Pakts vorzuschlagen erwägt. Nur zu dem Zweck, vor allem der sowjetischen Führung darzulegen, daß, wenn ungarische Beispiele Schule machen, die Sicherheit des ganzen „Lagers“ gefährdet ist. Und daß die Sowjetunion endlich harten Druck ausüben soll. Bei einem Mann wie Ligatschow und manchen anderen wird Hermann Axen dann offene Ohren finden. Auch wenn sie das nach außen hartnäckig leugnen, wissen Honeckers Stellvertreter, daß die Lage für sie bedrohlich zu werden begonnen hat.

Wird sich die innenpolitische Situation in der DDR jetzt verschärfen?

Wenn die DDR-Führung das Potemkinsche Dorf einer von zufriedenen, ja glücklichen Menschen bevölkerten DDR weiterhin so verbissen verteidigt, wie das nach den Äußerungen der Parteigrößen zu vermuten ist, kann sie sich nicht länger darauf verlassen, daß die DDR-Deutschen ihren Untertanen-Status widerspruchslos hinnehmen. Das tun sie ja heute schon nicht. Die Verteidigung der SED-Politik wird, fürchte ich, unvermeidlich den Repressionapparat der Staatssicherheit aktivieren und die auch heute noch vorhandenen Chancen einer inneren Befriedung durch Öffnung zum Gespräch mit den Menschen kaputtmachen. Nur habe ich in diesem Augenblick geringe Hoffnung, daß diese Chance von der Obrigkeit in Ost-Berlin gesehen und wahrgenommen wird.

Hat die Stagnation der SED-Führung nicht auch zwangsläufig eine Stagnation der Ost-Politik zur Folge? Welche Politik kann von der Bundesrepublik aus heute überhaupt gegenüber der DDR betrieben werden?

Auch wenn die SED fortwährend über Einmischung in die inneren Angelegenheiten lamentiert, müssen gerade solche Leute bei uns, die von Wiedervereinigungs-Halluzinationen frei sind, den Verantwortlichen drüben plausibel zu machen versuchen, daß sie nur durch drastische Kurskorrekturen einen Ausweg finden können. Es wäre aber närrisch und gefährlich, wenn jetzt von unserer Seite Druck ausgeübt würde. Es kann nicht beschönigt werden: Wir geraten mehr und mehr in die Rolle der hilflosen Helfer. Es bleibt uns nur die Politik der kleinen Schritte, über die manche mittlerweile nur noch verächtlich reden. Für eine neue und vor allem die reformhungrigen DDR-Deutschen inspirierende Strategie ist die Stunde noch nicht gekommen. Das selbstkritische Nachdenken können wir der herrschenden politischen Klasse in Ost-Berlin nicht abnehmen.

Interview: mtm