Stay at home

■ Gründe für einen Urlaub zu Hause

Martin Korol STAY AT HOME

Gründe

für einen

Urlaub

zu Hause

Über 40 Millionen Urlaubsreisen haben die Bundesdeutschen 1988 gemacht. Die Zahlen für 1989 liegen noch nicht vor - es werden kaum weniger gewesen sein. Ich denke selber gerne an viele Wochen Ferien zurück, angenehm verbracht an verschiedenen Orten: solo, mit Freunden oder mit meiner Frau und unseren drei Kindern. Indessen, irgendwann fiel mir auf: Aufwand und Ertrag stehen seit Jahren immer weniger in einem vernünftigen Verhältnis.

Meine Skepsis gegenüber Ferienreisen, zumal mit der Familie, steigerte sich im Laufe der Jahre zum Widerwillen dagegen. Seit zwei Jahren gehöre ich zu den wenigen Deutschen, die sich gegen die Teilnahme an diesem Volksvergnügen wehren. Meine Frau und unsere Kinder hielten mein Verhalten zunächst schlicht für familienfeindlich. Ich sah es genau umgekehrt. Wie aus einem schweren Traum erwachend, erinnerte ich mich immer deutlicher an die an verschiedenen Orten erlittenen Schmerzen: 1971 Sonnenstich in Mamaia, 2.000 Kilometer von zu Hause entfernt; 1976 Kreislaufkollaps in der Schweiz nach zwölfstündiger Autofahrt; 1979 Ehekrach in London, wohin wir immerhin anläßlich unseren zehnjährigen Hochzeitstages gefahren waren; 1980 Gelbsucht in Ägypten. Unsere Kinder waren krank in Rumänien, Tunesien, Ungarn, den Niederlanden (dreimal) und Dänemark (zweimal). Keine Ferienfahrt, auf der nicht wenigstens einem Kind schlecht wurde. Das könnte persönliches Pech sein. Allein, da ist noch mehr. Ich gewann den Eindruck, daß auch hier die Wiesen anderer Leute nur auf den ersten Blick grüner sind als die eigene:

„Weniger als die Hälfte der Bundesbürger war wirklich mit den 'schönsten Wochen des Jahres‘ zufrieden. Dies ergab eine am Sonnabend veröffentlichte Umfrage der Tübinger Wickert -Institute... Als Gründe für die offenbar wachsende Unzufriedenheit wurde vor allem genannt, daß zuviele Menschen im Urlaub seien, der einzelne nicht mehr als 'König Urlauber‘ behandelt werde und es überall zu eng sei.“ ('Bremer Nachrichten‘, 31.7.88)

Das Paradies ist überfüllt. Ich ziehe mich zurück. Droge Urlaub

Nicht anders geht es, mit Verlaub gesagt, Alkoholikern, Rauchern und Spielern. Auch sie betäuben sich, statt sich zu kurieren. Urlaubsreisen sind legalisiert wie Rauchen, Alkohol und Fernsehen, aber frei vom Verdacht, nur der Lust zu dienen und schädlich zu sein. Urlaubsreisen sind so begehrt wie sonst nur das Auto und so selbstverständlich geworden, als ob das Grundgesetz sie garantiere. Seit das Auto zur Geißel der Menschheit geworden und - gefolgt von Bus, Flugzeug und Kreuzfahrtschiff - eine unzertrennliche Verbindung mit dem Urlaub eingegangen ist, sind die Worte „Urlaub“, „Reiseurlaub“ und „Urlaubsreise“ geradezu synonym geworden: „Wo waren Sie im Urlaub?“ „Urlaubszeit gleich Reisezeit“ ist ein gängiger und wirklichkeitsgetreuer Slogan. Mit zunehmendem Wohlstand wurden aus individuellen „Urlaubsreisenden“ mehr oder minder organisierte „Touristen“. Aus dem schlichten Tapetenwechsel unserer Vorfahren wurde ein Narkotikum.

Urlaubsreisen sind Irrfahrten und anstrengend. Ihren Strapazen sind nur die wenigen unserer Mitmenschen gewachsen, die sie nicht nötig haben: Schüler, Studenten, Erben, Rentner und Pensionäre, die nicht unter dem Druck knapper Zeit stehen; und diejenigen UrlauberI, deren Arbeit so „interessant, anregend, lebendig“ (Erich Fromm) ist, daß sie Urlaub einmal täglich zuläßt: Selbständige etwa, vor allem leitende Angestellte und verbeamtete Akademiker wie eben wir Lehrer. Wer hat, dem wird gegeben.

Die meisten Urlauber sind urlaubsreif - und sind es doch nicht. Sie treten ihre Urlaubsreise erschöpft und kraftlos an. Kein Wunder also, daß sie noch kaputter zurückkommen als sie losgefahren sind. Daß sie dennoch immer wieder verreisen in der festen Überzeugung, sich dabei zu erholen, zeigt sie als Menschen ohne Alternative.

Gegenüber jeder profanen Dienstreise hat die in den Urlaub alle höheren Weihen der mittelalterlichen Pilgerreisen und der Kreuzfahrerzüge. Wir verstoßen mit und auf unserer Urlaubsreise so ziemlich gegen jedes der zehn Gebote. Nichtsdestoweniger bauen wir auf die seligmachende Kraft des Geldes, wenn wir sie planen und buchen. Unsere Erwartung gleicht der bei der Abgabe des Lottoscheins, wir erhalten einen Fetzen Papier als Wechsel auf eine schöne Zukunft. Wir warten auf die Reise wie auf Weihnachten. Um den Triebaufschub lustvoll abreagieren zu können, flüchten wir in Gegenden, wo uns keiner kennt. Wir bestellen, selbst oder qua Reisebüro, Betten, Sonne und Bedienung, wie weiland es nur die Fürsten konnten. Demokratisiertes Rokoko. Was die Kirche für die Zeit nach dem Tode verspricht, garantiert das Reisebüro für den Urlaub: das Ende der Leiden und die Entlohnung dafür in himmlischen Freuden. Emigration auf Zeit

Nicht weniger von Bedeutung als die psychologische Funktion des Verreisens scheint mir seine politische zu sein, zumal in Deutschland. Der Isolation am Arbeitsplatz entspricht die Zerstreuung der Bevölkerung in alle Welt während ihrer arbeitsfreien Zeit. Urlaubsreisen sind die Perversion traditioneller sozialistischer Forderungen nach einer längeren Unterbrechung der Arbeit, um sich zu regenerieren, zu erholen, zu sich selbst zu kommen. Vielleicht ist das Verreisen eine unbewußte Emigration auf Zeit. Die politische Demonstration der werktätigen Massen zur Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitssituation degenerierte zur Flucht der atomisierten Massen auf vorgezeichneten Wegen dorthin, wo sie allesamt scheinbar Könige sind. Als Ersatz für die Befreiung von Angst und Abhängigkeit verspricht die Urlaubsreise höchste Lust an der Entfremdung. Damit stabilisiert sie nachhaltiger als jede andere Droge auch die bestehenden Verhältnisse zu Hause.

Die bunten Postkarten aus dem Urlaubsort sind verhinderte Liebesgrüße aus dem Exil: Dem Empfänger sind sie Trophäen an der Pinnwand. Die ritualisierte Nachbereitung, einst wiederbelebte Freude, erwähnt und vergoldet im fachsimpelnden Gespräch, was gefragt ist. Erinnerung und Bräune verblassen gleich schnell. Fotos und Dias, einmal herumgereicht und kopiert, sind der einzige Ertrag. Der lange Winterabend, an dem man sie noch einmal gemütlich genießen wollte, kommt nie. Aus den Augen, aus dem Sinn. Alle Gedanken gelten schon dem kommenden Urlaub. Dann wird die Dosis erhöht: Drachenskifliegen in Alaska!

Schüler haben keinen „Urlaub“, sondern „Ferien“. Wir machen daraus Reiseurlaub nach Art der Erwachsenen, die vierte Phase der Sozialisation. Kinder könnten in den Ferien endlich mal in Ruhe spielen und Sport treiben, ins Kino gehen, Freunde und Verwandte besuchen, für sich selber lesen, schreiben, rechnen, malen oder am Computer sitzen und die Welt kennenlernen, in der sie leben. Sie könnten endlich mal einen Stundenplan nach ihren Wünschen beschließen.

Kinder sind konservativ. Sie wollen einfach bei dem Menschen sein, den sie lieben. Der Ort spielt keine Rolle. Wir reißen die Kinder aus ihrem Kreis von Freunden heraus, die allerdings auch bald mit ihren Eltern fahren müssen. Abgeschnitten von ihnen und ihrer möglichen Unterstützung, sind die Kinder jetzt ganz den Eltern und ihrem Urlaubsfimmel ausgeliefert. Einzelkinder und Kinder von Eltern, die sich getrennt haben, sind besonders gefährdet, zugleich verwöhnt und vernachlässigt zu werden. Ein Drittel unserer Schüler lebt mit einem alleinerziehenden Elternteil. Bis auf wenige Ausnahmen fahren die Kinder aus gescheiterten Beziehungen mit jedem Elternteil einzeln, womöglich noch vom Vormundschaftsgericht geregelt. Um die verschiedenen Ansprüche auf die Reihe zu bringen, kommt Papis neue Phasengefährtin mit; sie kümmert sich rührend. Alle meinen es herzlich gut, wenn sie diesen Überrest aus der gemeinsamen Zeit der Kleinfamilie fortführen. Aber Liebende, Familien und Kinder sind im Reiseurlaub erfolglos. Ihnen geht es wie Hund und Pferd in der hier ganz treffenden Fabel, die Bloch in den Spuren erzählt:

„Der Hund sparte dem Pferd die besten Knochen auf, und das Pferd legte dem Hund die duftigsten Heubündel vor, und so wollte jeder dem anderen das Liebste tun, und so wurde keiner von beiden satt.“ Mobilität ohne Sinn

Nur wer sich mal naiv mit guten Kollegen auf eine Woche Segeln eingelassen hat, weiß, was noch nervtötender, ja mörderischer sein kann als die normale Kleinfamilie im Reiseurlaub. Längst vor der Abfahrt merken die Kinder, daß der Urlaub naht. Sie hören von Orten mit exotisch klingenden Namen. Vorfreude kommt auf wie zu Weihnachten. Weder die Vorbereitung noch die Reise selbst gehen ohne Warten, Nervosität, Hektik und Schreierei ab. Die Kinder lernen, ohne Sinn mobil zu sein. Sie haben zu Natur, Kultur und den Kindern des Urlaubsortes keine Beziehung. Blind und brav folgen auch sie den Führern in Karthago, im Prado und auf der Akropolis. Herrenmenschendenken üben sie, wenn sie in ein Land einfallen ohne Kenntnis der Landessprache. 20 Idiome Ausländisch radebrechen zu können, gilt vielen schon als Beweis für die Bereitschaft, sich den Landessitten anzupassen. Kindchens Schulenglisch schlägt keine Brücken zwischen den Völkern, erlaubt nur der Familie, sich auf dem Markt von Izmir an der orientalischen Sitte des Feilschens zu beteiligen. Kohls oktroyiertes Nationalgefühl ist lächerlich, aber angenehm ist es schon, daß deutsches Geld begehrt ist. Wenn die Kinder quengeln, oder allgemein Mißstimmung sich breitzumachen droht, weil das Wetter wagt, es regnen zu lassen, kommt es auf einige Mark für Extras nicht an: „Wenn schon, denn schon.“ So geht das letzte Geld flöten.

Auch ich verreise. Zuallererst virtuell und in Gedanken bei der Lektüre von Agentenromanen; beim Kino-Festival, täglicher Programmwechsel; beim nächtlichen Fernsehen und Radiohören. Obwohl es technologisch völlig veraltet ist, verreise ich auch real: Ein Ziel vor Augen, bevorzuge ich die Eisenbahn, das älteste und solideste Massenverkehrsmittel. Beim Eisenbahnfahren kenne ich vorher die Kosten. Ich weiß den Weg und bekomme ihn in Portionen stationsweise serviert. Ich brauche mich um wenig zu kümmern, kann die Augen schließen, wann ich will, kann essen, trinken und telefonieren mit dem Gefühl, mir Luxus zu gönnen und zu einer überschaubaren Minderheit zu gehören, die ihn sich leisten kann. Ich kann allein bleiben, treffe aber genug fremde Leute im Abteil, mit denen ich bar aller Hemmungen fast alles besprechen kann - man sieht sich ja nie wieder.

Manche Mitreisende im Abteil animieren mich zu höchst angeregter Konversation. Ich bin auf mich allein gestellt, ohne den sicheren Boden gemeinsamen Vorverständnisses in der häuslichen Ingroup. Ich höre Ansichten, die ich für längst überwunden hielt und die mich, von sympathischen Menschen vorgetragen, rat- und sprachlos werden lassen. Ich erzähle ihnen freimütig und umständlich mein Leben und lausche neugierig ihrem Weg zur Weisheit. Das Gespräch hat seine Regeln, die die Mitreisenden beherrschen, obwohl das nie Thema im Deutschunterricht war. Die Bahn hat sich das Rauchen abgewöhnt, und ich fahre mit ihr im Bewußtsein, die Umwelt und mich wenig und vertretbar zu belasten. Darum und solange sie ein sozialeres und kommunikativeres Reisen als alle anderen Massenverkehrsmittel ermöglicht, ist die Bahn für mich deren kleinstes Übel. Am reservierten Fernsterplatz fahre ich nach Hannover, um Freunde zu treffen, mit denen ich sonst nur telefoniere; nach Hamburg zu meinem Bruder oder zum Hugo-Ball-Kongreß nach Pirmasens. Aber was soll ich in Florenz, wohin eine ehemalige Schülerin meiner Frau sie für eine Woche eingeladen hat? (Genau, bleib zu Hause und paß auf die Kinder auf, damit deine Frau mal alleine verreisen kann. d.S.) Als Begleiter durch die „undemokratischen Räume der Kulturtempel“ (Hansgünther Heyme), durch die Kirchen, die Museen, und durch Museen, die Rumpelkammern geworden sind?! Zurückgekehrt, wird meine Frau mir viel erzählen. Unsere beiden Kleinen fahren mit Schwiegers zwei Wochen nach Österreich. Oma und Opa sind Rentner, haben Zeit und nehmen sich welche. Die Kinder könnten keine besseren Reisegefährten haben. Derweil lade ich daheimgebliebene Freunde und Bekannte zu einer „Meine -Frau-und-die-Kinder-sind-verreist„-Party ein. (Ich hoffe, deine Frau kann auch so ein schönes Leben führen! d.S.)

Aus: Kommune - Forum für Politik, Ökonomie, Kultur, Frankfurt/M.