Neu im Kino:

■ „Das Spinnennetz“, deutsche Karriere

Da sage eine, es gäbe das deutsche Kino nicht mehr. Es lebt, jedenfalls auf dem finanziellen Sektor. Wer einen Namen hat, wie Bernhard Wicki, darf schon einmal 15 Millionen Mark benutzen, um mit 5.000 Komparsen und vielen renommierten SchauspielerInnen aus hunderttausend Metern Material über drei Stunden Spielfilm zu erstellen.

Was passiert, wenn ein kriegsverwundeter Leutnant, der sich gerade einem rechtsradikalen Geheimbund Anfang der zwanziger Jahre angeschlossen hat, am Pißbecken die Hacken zusammenschlägt, weil Prinz Heinrich hereinkommt? Er landet in dessen Bett und macht Karriere. Seine sexwütige Hoheit mit den weitreichenden Beziehungen ist eine weitere Stufe auf der Erfolgsleiter des vaterlandstreuen Theodor Lohse (Ulrich Mühe, Deutsches Theater, Berlin, DDR). Lohse hat es satt, sich weiter als Privatlehrer durchzuschlagen, er will nach oben.

Was tut ein deutscher Karrierist, um sein Ziel zu erreichen? Er gibt sich loyal und tritt nach allen Seiten. Heinrich Manns Untertan tat es so vor dem ersten Weltkrieg, auch Joseph Roths Hauptfigur in seinem Erstlingsroman Das Spinnennetz hält sich an diese Devise. Wicki hat die eher kurze literarische Vorlage breit ausgewalzt. Vom Geheimbundchef Baron von Rastschuk (Armin Mueller-Stahl) und dessen Erfüllungsgehilfen Klitsche (Andras Fricsay, ja, genau der) angetrieben, schleicht sich Lohse in eine anarchistische Gruppe. Dort trifft er den Juden Lenz (Klaus Maria Brandauer), der von nun an seinen Aufstieg mit Verachtung aber auch eigennütziger Anteilnahme begleiten wird.

Lohses opportunistische Entwicklung nimmt blutige Konturen an. Eine Aktivistin der Anarchisten endet durch seine Hand mit einer Kugel im Kopf, seinen besten Freund liefert er an die Spitzhacke des debilen Klitsche aus, um diesen danach gleich selbst zu meucheln. Die Offiziersehre ist dem mörderischen Kalkül gewichen, sogar ein Massaker unter polnischen LandarbeiterInnen ist kein Hindernis mehr.

Wickis Bilderflut zieht mit, ohne Frage, doch besonders zu Beginn ist sie löchrig. Die Impressionen teilen nicht mit, sondern wirken wie ein mächtiges Raster, das der Handlung aufgestülpt ist. Die Beweggründe Lohses sind nicht markant genug in Bilder umgesetzt, sie werden zugekleistert. Das ändert sich im Laufe des Film - vielleicht eine Wirkung der monatelangen krankheitsbedingten Drehpause.

Die Inflation der visuellen Eindrücke kuliminiert zudem in einigen Ekligkeiten, vor denen sicherheitshalber an dieser Stelle gewarnt sein soll. Meterhohe Blut- und Hirnfontänen, ein von einer Lokomotive gezweiteilter Brandauer oder die Massenerschießung unbewaffneter Menschen sind nur einige der entsetzlichen Szenen, die Berhard Wicki uns zumutet. Es sei ihm um höchste Detailtreue gegangen, berichtete der Regisseur in einem Interview, beim pommerschen Weizen des Jahres 1923, den er nachempfinden ließ, ebenso, wie bei der Darstellung der jiddischen Kultur.

Frauen kommen in Das Spinnennetz nur am Rande vor, entweder als heimliche jüdische Geliebte (Andrea Jonasson) oder als heiratbares Mittel zum Erfolgszweck (Corinna Kirchhoff). Das ist nicht Wickis Schuld, Roths Vorlage gibt sich da eher noch spärlicher, doch aus fraulicher Sicht ist es das altbekannte Männerbild. Zur Identifikation ist eigentlich keine der Charaktere geeignet, sie sind alle unangenehm.

Das Spinnennetz ist ein großer deutscher Film. Vielleicht ist es der wichtigste in diesem Jahr. Aber auf jeden Fall ist er zu lang. J.F.Sebastia

Gondel, 15/20 Uhr