Kein Nazi-Opfer?

■ Landgericht verweigert 57jährigem Sinto die Anerkennung als rassisch Verfolgter des Nazi-Regimes / Als Zwölfjähriger wurde er zwangssterilisiert

Eine juristische Niederlage mußte der Sinto Josef Müller gestern vor dem Landgericht einstecken. Zum zweiten Mal hat es die Justizkammer abgelehnt, den 57jährigen Heilpädagogen als rassisch Verfolgten anzuerkennen. Müller war als Zwölfjähriger von den Nazis zwangssterilisiert worden. Mit der gestrigen Verhandlung wollte er einen Bescheid vom vergangenen Jahr rückgängig machen, nach dem ihm die Anerkennung nach dem Politisch-rassischen Verfolgten-Gesetz (PrVG) verwehrt worden war.

Seit 1961 kämpft Müller nunmehr um die Anerkennung als Opfer des Naziregimes. „Vor 28 Jahren ist mein Antrag zum ersten Mal abgelehnt worden, Einspruch konnte ich damals wegen eines Termin-Irrtums nicht einlegen.“ Frustriert von der für ihn unverständlichen Rechtsprechung ließ der Angehörige der Volksgruppe Sinti daraufhin die Angelegenheit ruhen.

Vor drei Jahren erfuhr er in seinem Geburtsort Bitterfeld in der DDR, daß auf seiner Geburtsurkunde ein Zwillingsbruder namens Vinzenz aufgeführt war. „Das hat mir einen solchen Schock versetzt, daß ich die Sache mit meiner Anerkennung wieder aufgerollt habe.“ Mit dem Alptraum im Hinterkopf, daß sein Bruder vielleicht von den Nazis ermordet worden ist, versuchte Müller wiederum, als rassisch Verfolgter anerkannt zu werden. Er reichte beim Landgericht Berlin einen Überprüfungsantrag ein. Der wurde jedoch genauso abgelehnt, wie sein Antrag vor 28 Jahren. Begründung: Müller habe weder Zwangsarbeit leisten müssen, noch könne er nachweisen, daß er mindestens drei Monate versteckt habe leben müssen. Eines dieser Kriterien ist jedoch erforderlich, um unter das PrVG zu fallen.

Die einzige Zeugin, die Müller vorweisen kann, ist die Tochter seiner Pflegeeltern, bei denen er aufgewachsen ist. Sie war zum Zeitpunkt der Zwangssterilisation erst ein Jahr alt. „Ich habe mich fünf Monate lang in einer Gartenlaube verstecken müssen, das weiß nur die Zeugin. Sie ist ja in der Familie aufgewachsen und hat das später erzählt bekommen“, erklärte Müller. Seine Pflegeeltern, die dies bezeugen könnten, sind jedoch schon lange tot. „Mir geht es nur um die Anerkennung als rassisch Verfolgter, nicht um irgendwelche finanzielle Entschädigung.“ So hatte Müller eine finanzielle Unterstützung durch die Stiftung „Hilfe für Opfer der NS-Willkürherrschaft“ zugunsten ärmerer Betroffener abgelehnt.

„Ich verlange nur die Anerkennung meiner Menschenwürde“, so der Sinto, der noch immer hofft, eines Tages auf seinen Bruder zu stoßen. Aufgrund der behördlichen Verweigerung hat er auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker um Hilfe gebeten. Dieser habe ihm bei seinen gerichtlichen Schritten viel Erfolg gewünscht, ansonsten aber auf seine fehlenden Einflußmöglichkeiten hingewiesen. Müller beklagt, daß sich SPD und FDP zwar ebenfalls für seinen Fall ausgesprochen, aber keinerlei Konsequenzen daraus gezogen hätten. „Ich habe haufenweise zustimmende Briefe, aber was nützt mir das?“

Um doch noch als Verfolgter anerkannt zu werden, muß Müller wohl noch bis zur Novellierung des PrVG warten. Dessen Überarbeitung wird jetzt in Bonn in Angriff genommen. Ziel der Reform: auch NS-Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie sollen dann als politisch und rassisch Verfolgte anerkannt werden.

cb