Schuß vor den Bug

■ Die AL bewertet den MVV-Beschluß zur Stromtrasse als „Unmutszeichen“ in der eigenen Partei / Jusos fordern Mutterpartei zum Umdenken auf

Einen Herbststurm von Erklärungen der Koalitionspartner und der Opposition löste die Stromtrassen-Entscheidung der AL -Mitgliedervollversammlung den ganzen gestrigen Tag über aus: Der Regierende Momper erklärte, daß für ihn mit der Erfüllung des 1988 geschlossenen Stromliefervertrages „die Koalitionsfrage“ verbunden sei. Umweltsenatorin Michaele Schreyer warnte vor einem Bruch der Koalition, der noch „schlimmere ökologische Folgen für die Stadt haben würde“. Sie äußerte aber auch die Hoffnung, daß die Partei noch umgestimmt werden könne: „Der Beschluß wird den rechtlichen und politischen Verhältnissen nicht gerecht. Wir werden nach Gesprächen mit der SPD erneut in eine MVV gehen müssen mit der Frage: Will die AL die Koalition weiter tragen?“ Senatssprecher Kolhoff betonte, daß es in der Frage der Stromtrasse „keinen Spielraum“ gebe.

Schadensbegrenzend äußerte sich der AL-Parteivorstand. Harald Wolf vom Geschäftsführenden Ausschuß (GA) erklärte, daß man nicht die Koalitionsfrage stellen wolle: „Die AL -Mehrheit ist nach wie vor der Auffassung, daß die rot-grüne Zusammenarbeit die einzige Möglichkeit ist, eine Reformpolitik in der Stadt zu machen“. Die MVV-Entscheidung wertete Wolf als Zeichen für den „wachsenden Unmut in der Partei“. Koalitions-Entscheidungen seien in letzter Zeit „immer zuungunsten der AL ausgefallen“. Jetzt müsse die SPD Zugeständnisse machen, um die Koalition zu erhalten. AL -Sprecher Stephan Noe sagte, daß die Fraktion die Mitglieder -Entscheidung als „verbindlichen Auftrag“ betrachte. Der Stromlieferungsvertrag müsse politisch zur Disposition gestellt werden. Die „Ökosozialisten in der AL“ werteten die Ablehnung als Zeichen, „daß sich die Basis nicht mit faulen Kompromissen abspeisen läßt“. Der Entschluß müsse für Fraktion und Partei „handlungsleitend sein, alles zu versuchen, um die SPD unter Druck zu setzen“.

SPD-Fraktionsvorsitzender Ditmar Staffelt kritisierte den Beschluß als „unverständlich und nicht hilfreich“, und verwies darauf, daß die juristische Überprüfung des Stromlieferungsvertrags entsprechend der Koalitionsvereinbarungen erfolgt sei. Beide Parteien hätten vereinbart, nach dem negativen rechtlichen Ergebnis „Alternativen hinsichtlich der Trasse zu suchen“.

Dies sei mit dem gemeinsamen Einbringen einer prüfenden großen Anfrage ins Parlament (schwächere 110-Kilovolt -Leitung, unterirdische Verlegung) am Mittwoch geschehen. SPD-Pressesprecher Hans-Peter Stadtmüller äußerte sich gelassen zur AL-Kritik am „Koalitionsverhalten“ der Sozialdemokraten: „Das können die gerne machen.“ Die Bereitschaft der AL, „uns ordentlich einen auf den Deckel zu geben“, könne er verstehen. Den Anlaß allerdings halte er für verfehlt: „Kritik bitte ja, aber nicht so was Besoffenes.“

„Viel persönliches Verständnis“ für die AL versprühte SPD -Energie-Experte Wolfgang Behrendt. Schließlich seien sich die Koalitionspartner „von Anfang an einig gewesen“, in Sachen Stromtrasse „nur das hinzunehmen, was unabdingbar ist“. Auch der SPD-Parteitag habe aus seiner kritischen Haltung zum Stromliefervertrag kein Hehl gemacht. Allerdings sehe er nun die Gefahr, „daß mit dem jetzigen AL-Votum die gesamte neue Energiepolitik auf dem Spiel steht“. Wenn die Koalition breche, sei „erst recht keine ökologischere Trasse möglich“. Die Jusos forderten ihre Mutterpartei auf, den Konflikt mit der Bewag zu wagen. Nur so sei „veränderte Energiepolitik“ möglich. Die „Unbeweglichkeit“ der SPD in Richtung des Kompromisses 110-Kilovolt-Lösung gefährde den Bestand der Koalition.

„Unterstützung in dieser lebenswichtigen Frage Berlins“ bot zum wiederholten Male CDU-Chef Diepgen Momper an, nicht ohne vom Senatschef „Zivilcourage“ auch „gegen die Mehrheit der AL“ zu fordern. Die „Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz“ mahnte die „Null-Lösung“ der Trassenfrage an.

kotte/mow