: Du sollst töten
■ Ein Ostberliner Anatomie-Professor hat die Kulturgeschichte der Henker geschrieben und damit ein Tabu gebrochen
Die Herren, die sich am 2. März 1792 trafen, hatten Existentielles zu besprechen: Ludwig XVI., König von Frankreich, Dr. Anton Louis, sein Leibarzt, Dr. Joseph Guillotin, ebenfalls Arzt, und ein gewisser Charles Henri Sanson, passionierter Hobbygeiger und -pianist. Sanson legte dem König eine Skizze vor, die sein Musikerfreund, der deutsche Instrumentenbauer Tobias Schmidt, zwischen einer Arie aus Orpheus und einem Duett aus Iphigenie in Aulis angefertigt hatte. Ludwig XVI. war von der Zeichnung sehr angetan, ersetzte jedoch eine halbkreisförmige Linie durch einen schrägen Strich.
Die Guillotine, benannt nicht nach ihrem Erfinder, sondern nach ihrem leidenschaftlichsten Vorkämpfer und Verfechter, war geboren. Zunächst auf dem Papier, dann im Auftrag der Nationalversammlung hergestellt, an Leichen getestet und bereits am 25. April 1792 erstmals eingesetzt. Damit der König die nach dem fortschrittlichen Grundsatz „gleiche Todesstrafe für alle“ eingeführte Enthauptungsmaschine auch in Aktion sehen konnte, wurde sie vor seinen Fenstern auf der Place du Caroussell aufgestellt. Der königliche Schrägstrich, der die Form des Fallmessers bestimmte, bewährte sich. Zehn Monate später, am 21. Januar 1793, hatten Ludwig XVI. und sein ehemaliger Gesprächspartner ein letztes Tete-a-tete. Charles Henri Sanson, im Hauptberuf Henker, vollzog die Hinrichtung an seinem König - Ironie des Schicksals - mit Hilfe jenes von diesem mitgestalteten Tötungsgeräts, das in den Jahren 1793 und 1794 allein in Paris 15.000 Köpfe zum Rollen brachte. „Schweigen und Verdrängen
war der leichtere Weg“
Sanson, Mitglied der bekanntesten Scharfrichter-Dynastie der Geschichte, bemerkte zur sozialen Aufwertung seines Berufes in jenen kopflosen Zeiten: „Die Revolution machte den Scharfrichter zum Menschen, aber auch zum willenlosen Werkzeug des Wahnsinns.“ Diese Äußerung könnte als tiefsinniger Leitspruch der auf Gemüt und Magen drückenden Henkersmahlzeit gelten, die der in Wien geborene, in Ostberlin lebende Arzt und emeritierte Professor für Veterinäranatomie Tankred Koch mit dem Buch Die Geschichte der Henker - Scharfrichter-Schicksale aus acht Jahrhunderten bereitet hat. Denn diese Kultur- und Sozialgeschichte des Scharfrichters macht deutlich, daß die Menschen, die anderen Menschen oft auf grausamste Weise das Leben nahmen, selbst keine menschlichen Rechte hatten.
Warum hat Koch dieses Werk, in dem die Arbeit von vielen Jahren steckt, geschrieben? Weil er den Mantel des Schweigens lüften wollte, der den Vollzug der Todesstrafe in der Geschichtsschreibung zu einem Tabuthema machte. Der Autor: „Es waren aber Menschen, denen solches Schicksal widerfuhr, und es waren Menschen, die man zu dessen Vollzug anstellte und bezahlte und gleichzeitig der grausamsten Diffamierung und Ausstoßung aus der Gesellschaft unterwarf. Selbst einschlägige wissenschaftliche Werke über die gesetzlichen Strafen übergehen ausgerechnet deren Vollstreckung mit Stillschweigen. Daraus läßt sich schließen, daß eine Schilderung dieser Vorgänge und deren Exekutive die Selbstgerechtigkeit in der Brust der verurteilenden Personen beeinträchtigt, ja wahrscheinlich sogar ein Gefühl der Scham und des schlechten Gewissens hervorgerufen hätte. Schweigen und Verdrängen war der leichtere Weg.“ Kochs Chronik ist nicht zuletzt das Ergebnis einer gewaltigen wissenschaftlichen Fleißarbeit: Das im Anhang abgedruckte Namensverzeichnis umfaßt nicht weniger als 234 Scharfrichter, deren Schicksale teilweise ausführlich beschrieben werden.
Die Materialfülle ließ den Verfasser hin und wieder in einen Telegrammstil verfallen, was sich dann etwa so liest: „In Prag fand 1866 die letzte öffentliche Hinrichtung statt: Der Kellner Fiala hatte seine schwangere Geliebte ermordet. Er starb am Invalidenplatz unter den Händen Pippergers. In Berlin richtete im gleichen Jahr, während in Bernau die Cholera wütete, Scharfrichter Reindel den Raubmörder Grothe hin, der den Professor Gregy ermordet hatte. Ein Jahr später wurde in Portugal die dort bis dahin durch Garrotieren vollzogene Todesstrafe abgeschafft.“ Bei solchen eingestreuten Aufzählungen fragt man sich, ob weniger nicht manchmal mehr gewesen wäre. Sie belegen aber auch die Akribie, mit der Koch vorgegangen ist. Geächtet und ausgestoßen
Professionelle Scharfrichter hat es bereits 2.000 Jahre vor Christus gegeben, denn Hinrichtungsarten wie Pfählen, Verbrennen, Ertränken, die zum Beispiel aus der Gesetzgebung des Königs Hammurabi von Babylon (1728-1686 v.Chr.) überliefert sind, konnten nur von Fachleuten vollzogen werden. Schon bei den Griechen und Römern waren die Vollstrecker der Todesstrafe verfemt, verachtet und ausgestoßen. Wenn ein „Carnifex“ (der In-Stücke-Hauende, der Köpfende, der Schinder, der Henker) eine Versammlung betrat, genügte dies, um sie zu entweihen, wie Cicero berichtet. Diese gesellschaftliche Ächtung setzte sich durch die Jahrhunderte fort: Scharfrichter durften keine Wirtshäuser und keine öffentlichen Badehäuser betreten, keine Hochzeiten besuchen. Ihre Töchter konnten keinen „ehrlichen“ Mann heiraten, die Söhne keinen „ehrlichen“ Beruf erlernen.
Andererseits wurde ihnen ein endloser Aufgabenkatalog zugemutet. Professor Koch: „Der Scharfrichter mußte das gefallene Vieh kunstgerecht abhäuten (schinden, von skin Haut), mußte Aussätzige austreiben, herrenlos umherstreunende, oft tollwütige Hunde einfangen, mußte Pferde, Rinder, Schweine und Hühner kastrieren, Pamphlete und beanstandete Bücher verbrennen, Abortgruben leeren, köpfen, henken, rädern, vierteilen, pfählen, eine Unzahl von sinnreich erdachten Folterinstrumenten handhaben, er mußte Kindsmörderinnen lebendig begraben oder ertränken, kranke Menschen und Tiere behandeln, lederne Eimer und Handschuhe nähen, schleifen, schmieden, Holz bearbeiten, mußte wissen, wie man Galgen, Richtbühnen, Scheiterhaufen errichtet und abbaut; kurz gesagt, ihm, dem Unehrlichen, Geächteten, Ausgestoßenen, oblagen alle jene unangenehmen, schmutzigen und oft gefährlichen Arbeiten, deren Durchführung das Leben in den engen mittelalterlichen Städten erst ermöglichte.“
Und wenn sie bei der Ausübung ihres Handwerks - oft aus Mitleid mit ihrem Opfer - versagten („butzten“, wie es im Fachjargon hieß), wie jener französische Scharfrichter, der bei der Enthauptung der jungen Kindsmörderin Helene mit dem Richtschwert mehrere Male danebenschlug, wurden sie vom wütenden Pöbel gelyncht. Frühe Versuche wie 1459 in Breslau, eine Art Scharfrichtergewerkschaft zum Schutz der minimalsten Rechte und Gebühren zu gründen, scheiterten am Widerstand von Obrigkeit und Bevölkerung.
Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Buch, das die Schicksale von Scharfrichtern schildert und sie dabei zwangsläufig bei ihrem blutigen Handwerk beobachtet, über Ereignisse berichtet, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Die Hinrichtungen waren Teil, ja oft Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, bei denen nicht selten bis zu 100.000 Schaulustige die Richtstätte bevölkerten. Folglich sah es auch Koch als seine Pflicht an, den Ablauf dieser düsteren Schauspiele mitzuteilen. Etwa die Hinrichtung des tschechischen Reformators Han Hus, der wegen Ketzerei am 6. Juli 1415 in der Hauptkirche von Konstanz zum Tode durch Verbrennung verurteilt wurde. Auf dem Scheiterhaufen bat er einen Henkersknecht um einen kühlenden Schluck: „Gib mir einen Trunk Wasser, daß ich meine dürr‘ Zung‘ netz‘ und nicht zu Tode schmacht‘, eh euch die Freud meines Brattodes geschenkt wird.“ Der Knecht bot ihm seinen Weinkrug an, doch Hus wollte Wasser, das ihm aber nicht gewährt wurde. Auch die damals verbreitete Gnade gegenüber zum Brandtod Verurteilten, nämlich von Henkershand beim Aufsteigen der ersten Rauchwolken unauffällig erdrosselt zu werden, blieb ihm versagt. „Abschreckungstheorie
nicht haltbar“
Von Sokrates, der durch den Giftbecher starb, bis zum Medienspektakel um die Erschießung des amerikanischen Doppelmörders Garry Gilmore legt dieses Buch einen weiten Weg zurück, auf dem Stationen hervortreten wie die durch die verhängnisvolle Hexenbulle Papst Innozenz II. ausgelöste, drei Jahrhunderte andauernde Hexenverfolgung, die Exekution der Wiedertäufer, die Fallbeilsucht der Französischen Revolution und die Massenhinrichtungen der NS-Zeit, in der 24.559 inoffizielle Todesurteile zwischen 1939 und 1945 vollstreckt wurden. Dabei stellte der NS-Starscharfrichter Reichart einen furchtbaren Rekord auf: Er tötete bis Kriegsende 3.008 Menschen, davon 2.949 mit dem Fallbeil und 59 mit dem Strang.
Unter den makabren Ereignissen, die Koch erwähnt, ist der aus dem 14. Jahrhundert überlieferte Fall des Ritters Diez von Schaumberg, der mit seinen vier Knappen wegen Landfriedensbruchs zum Tode verurteilt worden war: „Er bat den Richter, seinen Knappen das Leben zu schenken, wenn es ihm gelingen sollte, sich nach seiner Enthauptung wieder zu erheben und an den vier Fuß voneinander entfernt in einer Reihe aufgestellten jungen Männern vorbeizugehen. Der Richter ging auf den Handel ein. Und das fast Unglaubliche geschah: Der kopflose Rumpf erhob sich schwankend und schritt steifbeinig und stampfend an den versteinerten Knappen vorbei, stolperte, fiel und verströmte zuckend das letzte Blut. Der Richter hielt Wort und schenkte den vier Knappen das Leben.“ Zu den Perversionen der Todesstrafen -Geschichte gehört auch, daß Kühe, Schweine und sogar Hühner wegen irgendwelcher „Vergehen“ nach Prozeß und Urteil hingerichtet wurden.
Martin Luther lobte den „Meister Hans“ - so hieß der Scharfrichter im Volksmund - als einen nützlichen und barmherzigen Mann, „denn er steuert den Schalk, daß er es nicht mehr thue, und wehret den anderen, daß sie es nicht nachthun. Denn für ihn schlägt er den Kopf ab, den anderen, hinter ihm, dräuet er, daß sie sich fürchten für dem Schwerdt und Friede halten.“ Koch merkt dazu an: „Erst viel später hat sich herausgestellt, daß diese Abschreckungstheorie nicht haltbar ist. In Ländern mit und denen ohne Todesstrafe sind keine Unterschiede in der Häufigkeit der Kriminalität festzustellen. Dennoch gibt es auch heute noch Menschen, darunter Politiker, Juristen, Kriminalisten, die immer noch glauben und behaupten, daß die Androhung des Todes eine abschreckende Wirkung habe.“
Joseph Weisbrod
Die Geschichte der Henker - Scharfrichter-Schicksale aus acht Jahrhunderten. Von Professor Dr. Tankred Koch. 372 Seiten, mit 22 Abbildungen. Gebunden, 48 DM. Kriminalistik Verlag, Heidelberg
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