Eine nicht ganz vollzogene Scheidung

■ Max Thomas Mehr im Gespräch mit Jurek Becker über die DDR, die Partei, die Fluchten und die Schwierigkeiten der Opposition

taz: Können Sie diejenigen verstehen, die zu Hunderten, im Moment sogar zu Tausenden aus der DDR flüchten, die mit allem brechen, alles stehen- und liegenlassen?

Jurek Becker: Zum einen ist ein Schuß Irrationalität dabei. Ein Vorgang fängt an zu leben, bekommt ein Eigengewicht und begründet sich selbst. Sicher sind unter den Geflüchteten solche, die deswegen abgehauen sind, weil andere es getan haben. Ich bin überzeugt davon, daß viele zum Urlaub nach Ungarn gefahren sind ohne die Spur eines Gedankens an Flucht. Die Lücke in der Mauer war unversehens da, und die Leute haben alles und sich vergessen und sind auf und davon.

Doch damit will ich nicht sagen, die Sache hätte nur mit der Verführungskraft eines Augenblicks zu tun. Es sind ja genug Gründe sichtbar, warum man die DDR satt haben kann. Das gilt besonders für junge Leute, die sich zu Recht davor fürchten, ein Leben mit den Händen an der Hosennaht zu verbringen.

Aber warum hauen sie gerade heute ab?

Weil die Gelegenheit so günstig scheint. Vor zwei Jahren hätten sie noch riskiert, erschossen zu werden, und jetzt ist es mit ein paar Unbequemlichkeiten getan.

Auf die Frage, warum sie überhaupt abhauen, kann man viele Antworten geben. Ich stelle mir zum Beispiel einen jungen Menschen vor, der sich seine Eltern ansieht, die ja auch schon in der DDR aufgewachsen sind, die sich seit 30 oder 40 Jahren verbiegen, entweder aus vermeintlicher Loyalität oder aus Feigheit. Wegen einer kleinen Karriere halten sie ihr Leben lang den Mund. Sie hatten die Hoffnung, mit dem Stillhalten ihre Probleme auszusitzen, aber das ist nicht passiert. Sie sind alt, häßlich, krumm, unsympathisch geworden, verbiestert. Die jungen Leute fürchten sich auf einmal wie die Pest vor einer solchen Biographie. Das ist ja nicht nur ein privater Vorgang. Wenn diese jungen Leute Grund zu der Annahme hätten, ihr Leben könne anders verlaufen, würden sie vermutlich dableiben. Aber das ist nicht der Fall. Man hat ihnen glaubhaft und drohend versichert: Daran wird sich nichts ändern. Also kapitulieren sie.

Man macht es sich zu einfach zu sagen, die wollen alle zu den besseren Autos. Materielle Gründe mögen mitspielen, ich finde das auch nicht ehrenrührig. Aber viel entscheidender scheint mir der Verlust der Hoffnung zu sein, daß man bald mitsprechen, daß man unbedroht kritisieren und so an seiner Situation etwas ändern kann.

Gibt es noch andere Gründe für die Fluchten?

Man sieht mit Grausen, wie die DDR sich von der Entwicklung in Osteuropa abkoppelt und eine realsozialistische Enklave bildet, um die Mauer, die um sie herum ist, eine neue Mauer zieht. Das ist ein Vorgang, der vielen Angst macht, auch mir.

Ein SED-Ideologe ist ja jetzt zu dem verblüffenden Schluß gekommen, daß eine reformierte DDR - die seiner Meinung nach, und das ist bezeichnend, nur in Richtung Kapitalismus laufen könnte - die Legitimationskrise des Staates DDR verschärfen würde, ganz anders als Reformen in den anderen sozialistischen Ländern. Was halten Sie davon?

Das ist Wortgeklingel, das ist ein müdes Gedankenspiel. Das tut so, als seien die heutigen Zustände in der DDR die einzig mögliche Form von Sozialismus. Und als seien Versuche der Kritik und der Veränderung nur scheinbar gegen die Partei, in Wahrheit aber gegen den Sozialismus gerichtet. Tatsächlich ist eine sozialistische Entwicklung aber nur aussichtsreich, wenn sie ganz andere Wege als in der DDR geht.

Bleibt nicht doch ein Unterschied? Selbst wenn ein dritter Weg eingeschlagen würde, löste das in der DDR möglicherweise eine größere Legitimationskrise als zum Beispiel in Polen aus.

Das kann sein. Die Legitimationskrise speist sich vor allem daraus, daß seit nunmehr 40 Jahren ein Land gegen die Wünsche der überwiegenden Mehrheit seiner Bevölkerung regiert wird. Wenn eine Regierung mit der Bevölkerung im großen und ganzen übereinstimmt, gibt es keine Legitimationskrise. Die Partei empfindet Sendungsbewußtsein, und diesem Sendungsbewußtsein mißtraue ich, darauf kann man getrost verzichten. Wenn ich immer wieder höre, die Entwicklung zum Sozialismus in der DDR sei unumkehrbar, dann frage ich mich, woher diese Gewißheit kommt. Ist damit gemeint: Und wenn ihr euch auf den Kopf stellt, wir machen weiter? So kann man keinen Sozialismus aufbauen. Zum Wesen des Sozialismus gehört das Einverständnis derer, zu deren Nutzen er gemacht werden soll.

In der DDR hat die Partei allzu früh geglaubt, daß sie weiß, was getan werden muß, und daß es der blöden Bevölkerung nur noch beigebracht werden muß. Diese Konstellation schafft eine Art Dauerkrise.

In der letzten Zeit, mit dem Jahrestag des 68er Einmarsches in der CSSR ist mir ein seltsamer Eindruck entstanden. Ein paar osteuropäische Regierungen lassen Kritik an ihrem damaligen Verhalten erkennen, die SED aber verteidigt ihre damalige Position. Sie meint, damals habe es tatsächlich eine Bedrohung des Sozialismus in der CSSR gegeben, der Kapitalismus habe seine Fratze durchblicken lassen, es sei richtig gewesen, einzumarschieren. Nun findet die DDR -Regierung ja auch heute, daß in einigen osteuropäischen Ländern dieselbe Gefahr wie damals besteht. In Polen, in Ungarn, teilweise in der Sowjetunion. Die Logik dieser Einschätzung bedeutet: eigentlich müßten wir heute wieder einmarschieren. Den Äußerungen der SED entnehme ich auch den Wunsch, es zu tun, man schafft es bloß nicht alleine. Wenn man die Verbündeten hätte, würde man es den anderen wieder zeigen. Das ist keine Unterstellung, sondern es ergibt sich zwingend logisch, wenn man die Verlautbarungen der Partei aneinanderfügt.

Selbst aus der Parteiführung in der CSSR hört man heute kritischere Töne zu 68 als aus der DDR. Ist das eine typisch deutsche Reaktion?

Ich glaube nicht. Das Bewußtsein, immer alles richtig gemacht zu haben, ist ein sehr angenehmes. Ich hätte es auch gern. Und die Furcht, sich Fehler einzugestehen, nimmt wohl mit dem Alter zu. Das Phänomen Altersstarrsinn macht keinen Bogen um das Politbüro der SED.

Ein entscheidender Faktor für den Verlust der Fähigkeit, sich zu revidieren und Fehler einzugestehen, ist das totale Fehlen von Widerspruch. In der DDR ist Widerspruch nicht zugelassen. In der DDR gilt Widerspruch als konterrevolutionär. Der Segen einer Opposition ist es ja, ihre Gegenposition, ihr Andersdenken so präzise wie möglich vorzutragen. Sie wirbt um ihre Meinung. In der DDR braucht man um Meinungen nicht zu werben. Die eine Meinung ist richtig, alle anderen sind verboten, Ende.

Das ist das Merkwürdige an der Öffentlichkeit, den Medien in der DDR. Jetzt wird Dresden sogar mit den privaten West -Kanälen verkabelt. Zum System gehört, daß der Widerspruch nur vom Westen aus geduldet wird, via West-Fernsehen, zum Beispiel über die in den Westen gedrängten Oppositionellen, die sich von dort aus über die elektronischen Medien zu Wort melden können, als Ausgegrenzte. Ist dieses In-den-Westen -Drängen der Opposition eigentlich der einzige Grund dafür, warum es keine organisierte gesellschaftliche Opposition in der DDR gibt?

An dem Argument, daß Unzufriedenheit fortlaufend aus der DDR emigriert, ist natürlich etwas dran. Die Unzufriedenheit emigriert, bevor die sich als eine Art Opposition etabliert hat. Das ist eine wichtige Ursache dafür, warum sich keine nennenswerte intellektuelle Kraft den gängigen Dogmen entgegenstellt.

Vielleicht kann man sagen, es gibt in der DDR keine Oppositionskultur. Und vielleicht ist der Grund dafür, daß die materielle Not in der DDR nicht so groß ist wie in der Sowjetunion oder Polen, in den Ländern, in denen das, was dann Opposition geworden ist, nichts zu verlieren hatte als sozusagen die Ketten. Die in der DDR den Mund aufreißen, sich anlegen mit der übermächtigen Staatsmacht, die haben sehr wohl mehr zu verlieren. Die haben, auch wenn man das im Westen kaum wahrnimmt, eine gewisse Art von Wohlstand zu verlieren. In der DDR wird ja Anpassung auf sehr wirksame Weise honoriert und Nichtanpassung auf sehr lästige Weise bestraft. Du kannst nicht studieren, nicht reisen, kriegst keine Wohnung, ich muß das nicht alles aufzählen. Das Furchtbarste, was die DDR sich angetan hat, ist die Oppositionsmeinung nur über die West-Medien ins Land kommen zu lassen. Das bedeutet, sich eine Opposition zu leisten, die nur gehässig, hämisch, unbeteiligt ist, die sich nur über Niederlagen freut und Erfolge verleugnet. Die Opposition, die man selber hätte haben können, wäre ja eine gewesen, die es besser machen will.

Die DDR regt sich darüber auf, daß das, was jetzt in Ungarn passiert, im Westen mit hämischer Freude ausgebreitet wird anstatt mit Bedauern. Von Kampagne ist die Rede. Was halten Sie von dem Vorwurf?

Was erwartet denn die DDR? Verspricht sich denn das Politbüro, daß der RIAS, die 'FAZ‘ oder die 'Welt‘ die DDR dafür bedauern? Das ist doch eine ganz unsinnige Erwartung. Und wenn man behauptet, eine westliche Medienkampagne hätte die Massenflucht verursacht, dann sollte man sich an den guten alten marxistischen Grundsatz erinnern, wonach das Sein das Bewußtsein der Menschen bestimmt, nicht irgendwelche Rundfunkberichte.

Wenn man den ideologischen Müll etwa der 'FAZ‘ abzieht, dann bedauert der Westen ja die DDR heute irgendwie schon aus ganz eigennützigen Gründen, die Bundesrepublik will die nicht alle hier haben.

Ich glaube, der Durchschnitt der bundesdeutschen Medien folgt nicht dem Ziel, die Widersprüche in der DDR zu beruhigen oder gar lösen zu helfen, sondern sie auf die Spitze zu treiben. Daß die Bundesrepublik sich damit in Form der Flüchtlinge selbst Probleme einhandelt, wird dabei in Kauf genommen. Auch wenn es zynisch klingt - viele DDR -Bürger, die in den Westen kommen und hier den erhofften Wohlstand und das erhoffte Glück nicht finden, sind wie die Späne, die dort fallen, wo gehobelt wird.

Sie leben seit zwölf Jahren in Kreuzberg mit einem blauen DDR-Paß und Dauervisum. Wo sind Sie zu Hause?

Mein Visum gilt inzwischen seit zwölf Jahren. Im Grunde ist das eine Absurdität, denn Visa sind ursprünglich ja als Erleichterung für eine Reise gedacht, nicht als Grundlage für eine Existenz. Mein Dauervisum vernebelt eine Scheidung. Man will nicht offen zeigen, daß eine Beziehung zu Ende ist, daß man nichts mehr miteinander zu schaffen hat. Also verschleiert man die Trennung mit solch einem Visum.

Sie fragen, wo ich zu Hause bin, das klingt wie eine ordnungspolitische Frage. Als sei man verpflichtet, sich einer Umgebung mit Haut und Haaren zuzuordnen, als gehöre man zu einem Zuhause wie eine Glühbirne in die Fassung und müsse das auch laut und deutlich erklären. Wenn es also unbedingt sein muß: Ich fühle mich in West-Berlin zu Hause, kein anderer Ort ist mir zur Zeit näher und vertrauter. Aber glauben Sie nicht, daß mich unentwegt die Frage beschäftigt, wohin ich gehöre und wohin nicht. Wahrscheinlich fühlt man sich dort am ehesten heimisch, wo seine Widersprüche ernstgenommen werden. Jedenfalls ist das bei mir so. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich irgendeine Umgebung als Zuhause akzeptiere, wo mein Widerspruch nicht zugelassen ist.

Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Ich vermute, daß genau das ein wichtiger Grund dafür ist, warum sich so viele Leute in der DDR nicht heimisch fühlen. Ihr Widerspruch ist verboten. Das bedeutet, einen Teil meines Ichs wollen sie dort nicht haben, nur die gehorsame Hälfte oder mein nettes Viertel. Die Menschen haben aber Schwierigkeiten, wichtige Teile von sich zu amputieren, nämlich ihre Widersprüche. Sie werden ja dann zu Krüppeln, als maße sich jemand an, ihnen den Gebrauch der linken Hand zu verbieten, und zwar durch Drohung mit der Amputation.

In meinem besonderen Fall müssen Sie aber auch bedenken, daß ich einigermaßen freiwillig hier bin. Man hat mich nicht ausgebürgert und nicht rausgeworfen wie einige andere. Nicht andere haben für mich entschieden, sondern ich selbst.

Und warum haben Sie sich so entschieden?

Auch wenn es Sie wundert - es war zu großen Teilen eine private Entscheidung. Ich fühlte mich in meiner Arbeit behindert. In der aufgeregten Situation damals habe ich auf eine Weise geschrieben, die meiner eigenen Vorstellung von Schreiben nicht entsprach. Und wenn ich in dieser Situation geblieben wäre, wäre das immer so weitergegangen.

Auf welche Weise haben Sie geschrieben?

Zum Schluß habe ich die Berufe Schriftsteller und Widerstandskämpfer miteinander verwechselt. Ist ja schließlich nicht dasselbe. Es sind Situationen denkbar, in denen man so herausgefordert wird, in denen man so fixiert ist auf eine Auseinandersetzung, daß man sich nur noch dazu äußern kann. Aus der Distanz sieht mir das wie eine Verarmung aus.

Hinzu kommt, daß man in der DDR in einer sehr bevorzugten Situation ist, wenn man als Schriftsteller seinen Widerspruch äußert. Die anderen dürfen das nicht, die würden als Lehrer oder Ingenieur oder Arbeiter oder Arzt großen Ärger kriegen, als Schriftsteller aber wird man vom 'Spiegel‘ interviewt und vom SFB gelobt. Einen halbwegs bekannten Schriftsteller lassen die Meinungsaufpasser in der DDR also in Ruhe. Da kommt leicht das Bewußtsein auf, auch stellvertretend für andere Widerspruch vorbringen zu müssen. Und man nimmt bald nicht mehr wahr, daß es vielleicht schon ein fremder Widerspruch ist, nicht mehr der eigene. Man ist zu einer Widerspruchsmaschine geworden.

Macht nicht gerade der Widerspruch die DDR-Literatur der letzten 20 Jahre so aufregend im Unterschied zur westdeutschen Literatur?

Ich kenne Ihre Maßstäbe nicht, wann Literatur aufregend ist und wann nicht. Bestimmt ist Widerspruch ein wichtiger Antrieb für Literatur, aber er macht nicht die Literatur aus. Ich glaube nicht, daß Schriftstellern Aufgaben in einer Gesellschaft zugewiesen werden sollten, sie würden sie ja doch nicht erfüllen. Joseph Roth hat in den zwanziger Jahren auf eine Zeitungsumfrage, was die Aufgabe von Schriftstellern sei, geantwortet: Sie haben die Aufgabe, ihre Bücher so gut zu schreiben wie sie können.

Und ich hatte mich damals plötzlich im Verdacht, daß ich genau das nicht mehr tue. Ich empfinde meine Grenzen ohnehin als schrecklich eng, und sie dann noch nicht auszuschreiten, das ist bitter. Es war wie ein Zwang, mich zu aktuellen Angelegenheiten zu äußern, mit jedem Satz, den ich schrieb, tagespolitisch auf der Höhe zu sein.

Hier im Westen bin ich natürlich auch bestimmten Zwängen ausgesetzt. Aber das wußte ich vorher, daß ich mich nicht von der Hölle ins Paradies begebe. Das hätte mir so passen können, das möchte jeder gerne, aber es glückt nie.

Auch wenn ich seit zwölf Jahren nicht mehr dort lebe, merke ich, daß die DDR etwas Aufregendes für mich geblieben ist. Ich kann mir nicht die Hände sauberklopfen, mich umdrehen und sagen: Das war's. Damals habe ich die DDR auch als Resultat meiner Bemühungen betrachtet. Ich habe sie mitgemacht und mir eines Tages gesagt, sie gefällt mir nicht. Wenn man Bildhauer ist, dann nimmt man diesen Tonkopf, der einem mißlungen ist, schmeißt ihn auf die Erde und macht einen neuen. Die DDR hat mir nicht gefallen, und ich wollte eine neue machen. Das ging nicht, und in dem Maße, wie diese Bemühung und mein Widerspruch größer geworden ist, bin ich disqualifiziert worden, bin ich aus dem Wettbewerb genommen worden. Diese Situation ist so weit eskaliert, daß es mich die paar Kilometer bis hierher getrieben hat.

Bewegen Sie sich heute eigentlich in beiden Teilen der Stadt?

Ich fahre vielleicht im Monat einmal nach Ost-Berlin. Dabei merke ich, wie sich die Beziehungen zu Leuten in Ost-Berlin ausdünnen. Beziehungen, die früher solche zwischen Freunden waren, werden immer mehr die von einem Westbesucher zu Besuchten.

Sie haben in beiden Teilen der Stadt gelebt und können hin und her. Glauben Sie, daß diese doppelte Erfahrung Ihnen ein anderes Lebensgefühl vermittelt?

Als die Mauer gebaut wurde, war ich 23 Jahre alt, bewegte mich bis dahin in ganz Berlin. Bald danach war ich Schriftsteller und durfte manchmal in den Westen fahren. Ich hatte also nur selten das Gefühl von Eingeschlossensein. West-Berlin hatte nichts Exotisches für mich, als ich hergezogen bin, ich war mit der Stadt schon vorher ziemlich vertraut. Daß ich hier wohne und nicht in Frankfurt oder Hinterzarten, hat erstens mit dieser Vertrautheit zu tun, zweitens bin ich ein Stadtmensch (und alle anderen deutschen Städte kommen mir wie großgeratene Dörfer vor), drittens gibt es keinen Ort, wo ich so viele Leute kenne. Ich bin ja damals nicht alleine von Ost nach West gezogen.

Nach der Biermann-Ausbürgerung?

Ja. Und von alldem abgesehen, ist Berlin auch eine aufregende Stadt. Wenn ich in anderen deutschen Städten länger als eine Woche bin, dann überfällt mich das Gefühl von Öde. Durch welche Umstände immer, dazu gehört sicher die Ost-West-Konstellation, kommt mir Berlin wacher vor als andere Städte. Hier nimmt man etwas wahr, das woanders leicht verschlafen wird.

Warum bleiben so viele aus der DDR in West-Berlin?

Bestimmt spielt für viele eine Rolle, daß sie hier nicht so getrennt sind von der DDR wie, sagen wir, in Stuttgart. Nicht so weit entfernt von der Schwester, von Freunden, vom Betrieb und von den Nachbarn. Wenn man in der DDR erzogen und aufgewachsen und dann in den Westen gegangen ist, kann man sich wahrscheinlich nicht gegen den Vorwurf wehren, die DDR verraten zu haben. Ich meine, der Vorwurf wächst in einem selbst, er steckt in einem drin. Man drückt das weg, man sagt sich: Ach Quatsch, wo gibt's denn so was! Aber da nagt etwas.

Wenn man hier ist, in West-Berlin, dann lebt man ein bißchen wie auf dem Sprung. Man hat jederzeit das Gefühl, man könnte wieder zurückgehen, wenn sich nur gewisse Zeichen zeigen sollten. Das bildet man sich natürlich nur ein, aber wer kann ohne Illusionen auskommen? Wie es ja auch eine Illusion ist zu glauben, daß man mit dem Grenzübertritt aus dem Unglück ins Glück kommt.

Vielleicht ist diese Stadt eine dritte Existenzform von Deutschland?

Ich habe manchmal daran gedacht, ob der Kapitalismus in West-Berlin nicht so richtig funktioniert.

Er funktioniert offensichtlich nicht so richtig. Die Hälfte des Landeshaushalts sind Subventionen aus Bonn.

Wenn man die Zustände in West-Berlin definieren müßte, dann vielleicht so: Ein DDR-Unternehmen hat den Auftrag bekommen, kapitalistische Verhältnisse zu organisieren. So läuft das hier. Berlin hat für Westdeutsche oft etwas Exotisches. Es ist ein Mittelding.

Man braucht nicht zur Bundeswehr.

Das ist einer der erfreulichsten Vorteile. Und zur Nationalen Volksarmee braucht man auch nicht.

Berlin ist doch der Ort, von dem aus am ehesten eine neue Politik zwischen Ost und West erfunden werden können müßte?

Das wissen Sie nicht, das hoffen Sie. Aber es ist keine aus der Luft gegriffene Hoffnung. Tatsache ist, daß in Berlin die Widersprüche der heutigen Welt auf besondere Weise zutage treten. Das heißt andererseits auch, daß Berlin besonders viel von der Lösung dieser Widersprüche hätte. Kaum ein anderer Ort kann von Entspannung so profitieren wie Berlin. Also ist man hier besonders wach, die Erschütterungen unserer Zeit werden hier besonders deutlich. Berlin ist wie ein Seismograph.

Vielleicht sollte man die Frage keinem Schriftsteller stellen, aber warum eigentlich nicht? Wie könnte denn eine neue Ost-West-Politik, die von Berlin ausgeht, heute ausgestaltet sein?

West-Berlin ist eine Frontstadt, egal welche Empfindungen man bei dem Wort hat. Die DDR ist auch ein Frontstaat. Auf Dauer müssen die Frontorte größeres Interesse an grenzüberschreitenden Maßnahmen haben als das Hinterland. Solange sie Front sind, findet der Schaden vor allem dort statt. Soviel scheint klar, daß die wichtigsten Eigenschaften, die an solchen Orten nicht verloren gehen sollten, Redebereitschaft, Denkbereitschaft und Dogmenungläubigkeit sind. In Berlin wird leichter etwas infrage gestellt als in Bayern, wo bestimmte Grundsätze als ehern gelten. Berlin ist nicht so sehr das konservative christliche Abendland wie etwa Südtirol, und scheinbar ketzerische Standpunkte haben hier eine selbstverständliche Daseinsberechtigung. Man wird hier nicht gleich aufgehängt für das Verletzen sogenannter ewiger Grundsätze.

Es müßte doch heute um einen neuen Dialog mit der DDR gehen. Anfang der 80er Jahre gab es die Schriftstellergespräche über Abrüstung und Frieden zwischen Ost und West, dann die SPD-SED-Gespräche, heute müßte politisch umfassender und über diese Kreise hinaus der Dialog geführt werden.

Die Partei in der DDR leidet für meine Begriffe an einer Art Verfolgungswahn. Wenn solche Treffen stattfinden, hat sie Furcht, es handle sich um Bestrebungen, sie und ihre Position aufzuweichen, sie aufs Kreuz zu legen. Das ist insofern richtig, als jede Diskussion nur dann Sinn hat, wenn verschiedene Ansichten ausgetauscht werden.

Solche Gespräche kriegen erst dann ihren eigentlichen Nutzen, wenn die DDR sich zu bewegen anfängt. Im Moment scheint sie, jedenfalls was die Führung angeht, im Zustand der Denkstarre. Als hätte sie eine Art Hirntod erlitten.

Ein wirklicher Dialog, auf den sich beide Seiten einlassen, bedeutet ja, daß sich beide Seiten darauf einstellen, aus einem solchen Dialog anders herauszukommen als sie hineingegangen sind.

Völlig richtig. Da die Partei diese Furcht nun mal hat, wird es auf absehbare Zeit zu solchen Dialogen nur kommen, wenn man sie nicht fragt. Es muß über sie hinweg geschehen. Das ist - wenn Sie so wollen, und so wird man das auch in der DDR nennen - eine Art Opposition. Aber das ist dringend notwendig, nicht nur was das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander angeht, sondern auch, was die Verhältnisse innerhalb der DDR selbst angeht. Die Leute in der DDR dürfen nicht darauf warten, daß sie von der Partei die Genehmigung erhalten, sich zu bestimmten Fragen zu äußern, sondern sie müssen es tun. In dem Maße, wie kontroverse Meinungsäußerung selbstverständlich wird, wird die Partei ihre Position dazu verändern müssen. Es wird ihr nichts anderes übrigbleiben. Die Partei ist offenbar nur mit den Veränderungen einverstanden, die über sie hinweg geschehen.

Sind Sie optimistisch, daß in nächster Zukunft ein Reformprozeß in der DDR in Gang kommt?

Eigentlich ja, eigentlich bin ich optimistisch. Ich fürchte nur, daß es vorher eine Lawine von Repressalien und Zwängen geben wird. Die Partei wird eine Abwehrmauer errichten, um die Reformen aufzuhalten, und diese Mauer muß durchstoßen werden.

Ich vermute, der Einfluß vom Westen auf diesen Prozeß kann nicht allzu groß sein. Das sind deren Zwänge, Nöte, das ist DDR-Unglück, nicht das der Westler. Jeder Rat von hier ist eben ein West-Rat, egal wie er lautet. Eine andere Sache sind Kooperationsangebote. Damit meine ich nicht Vorschläge, wie die in der DDR zu verfahren hätten, sondern Vorschläge, wie man sich zueinander verhält.

Andererseits ist es kaum möglich, sich da rauszuhalten. Ich merke ja an mir selbst, wie Ungeduld mir die Zähne auseinanderreißt. Wie ein jahrzehntelanges Verständnis für Absonderlichkeiten in der DDR-Politik sich auflöst. Von Tag zu Tag mehr finde ich, daß Geduld das falsche Verhalten ist. Wohin führt es denn, immer wieder den Psychiater zu spielen, das verhaltensgestörte Politbüro auf die Couch zu legen und immer wieder nach den Motiven für sein seltsames Tun zu forschen?

Offenbar handelt es sich um eine Art geistiger Unbeweglichkeit, um die Unfähigkeit zu bestimmten Einsichten. Reformen in der DDR werden nicht dann geschehen, wenn die Partei sie verkündet, sondern wenn sie dazu gezwungen wird.