Die arrangierte Realität

■ Ein Gespräch mit dem französischen Filmemacher Marcel Carne („Die Kinder des Olymp“), dem Anfang Oktober auf dem Internationalen Filmfestival Tokio der hochdotierte Preis fürs Gesamtwerk verliehen wird, der japanische Oscar gewissermaßen

Gerhard Midding / Robert Müller

taz: Ihr erster Film in eigener Regie war „Jenny“ (1936).

Marcel Carne: „Jenny“ war mehr eine Stilübung. Als meinen ersten Film betrachte ich „Drole de drame“ (1937).

Aber „Jenny“ markiert den Beginn Ihrer Zusammenarbeit mit Jacques Prevert.

In der Tat. Ich hatte die Aufführung eines surrealistischen Theaterstücks von ihm gesehen und fragte ihn daraufhin, ob er einen realistischen Film mit mir machen wolle. Eine verrückte Idee, die eine zehnjährige Zusammenarbeit begründete. Prevert verstand es meisterlich, Poesie und Dialogkunst miteinander zu verbinden.

„Drole de drame“ hat Sie erstmals mit dem Filmarchitekten Alexander Trauner zusammengeführt. Trauner war zur gleichen Zeit Assistent bei Lazare Meerson, wie Sie bei Feyder, für den Meerson viele Dekors entworfen hat.

Lazare Meerson hat auch die Dekors der Filme von Rene Clair entworfen. Ich selbst war eine zeitlang Regieassistent bei Clair, und kannte Meerson seit den Dreharbeiten zu „Sous les toits de Paris“ (1930). Meerson war auch für die Bauten in den Filmen von Feyder verantwortlich. Der Dekor des großen Platzes von Brügge in „La kermesse heroique“ (1935) ist meiner Ansicht nach der schönste, der jemals auf einer Leinwand zu sehen war. Meerson war ein Künstler, ein Meister seines Metiers. Ihm war ein Sinn für den Luxus zu eigen, den Trauner vielleicht nicht kannte, aber Meerson hatte auch ein Gefühl für das Populäre, wie man an der Architektur für Clairs Film „Sous les toits de Paris“ und „Quatorze juillet“ (1933) sehen kann.

Wie würden Sie die Arbeitsweise von Alexander Trauner charakterisieren?

Trauner hat seine Dekors niemals frei erfunden. Als er das Haus für „Le jour se leve“ (1939) auf dem Set errichtet hatte, staunte jeder über die Realitätstreue. Als ich dann eines Tages in Paris nahe der Metrostation Stalingrad spazieren ging, stieß ich plötzlich auf eben jenes Haus. Trauner hatte es kopiert. Wenn er ein heruntergekommenes Mauerwerk zu entwerfen hatte, sah er sich in den Straßen von Paris nach einer Vorlage um, fertigte ein Modell und begann, ausgehend von dieser Miniatur, seine Arbeit. In gewisser Weise reproduzierte er die Wirklichkeit.

Entwickelte sich im Laufe der gemeinsamen Arbeit zwischen Ihnen, Prevert, Trauner und Schauspielern wie Barrault ein esprit d'equippe, eine Atmosphäre der gegenseitigen kreativen Anregung?

Wir ergänzten und verstanden einander. Ich erinnere mich einiger Auseinandersetzungen mit Prevert, der hin und wieder eine andere Vorstellung von einer Szene besaß als ich. Da ich jedoch den Film zu inszenieren hatte, berücksichtige er meine Auffassung und erarbeitete die Szene in diesem Sinne. Mit einer Ausnahme konnten wir uns immer einigen: Während der Dreharbeiten zu „Trois chambres a Manhatten“ (1965) übergab er mir eine wunderbare zwölfseitige Beschreibung der Osterinseln. Da ich indes den Fluß des Films nicht für zehn Minuten unterbrechen wollte, schlug er Kürzungen vor, denen sich Prevert vehement widersetzte. So war ich zum ersten und einzigen Mal gezwungen, ein Drehbuch zu beschneiden. In der Regel wurde das Szenarium, sei es von Jacques Prevert, Charles Spaak oder Jacques Sigurd besprochen, und von dem Moment an, in dem man sich einig war, blieb das Drehbuch unantastbar.

Haben Sie während Dreharbeiten niemals improvisiert?

Auf dem Set mag es manchmal gut und schlüssig erscheinen, eine Szene zu ändern. Doch spätestens bei der nächsten oder übernächsten Einstellung, wenn man Zusammenhang und Anschlüsse berücksichtigen muß, wird einem deutlich, daß man einen Fehler begangen hat. Ein sorgfältig erarbeitetes Skript sollte nicht aufgrund spontaner Einfälle verändert werden. Sicher ist es möglich, einen Satz umzustellen, oder ein Wort gegen ein anderes auszutauschen, wenn der Schauspieler Schwierigkeiten mit der Aussprache hat. Weiter sollten die Eingriffe indes nicht gehen.

Einige Ihrer Filme wie „Quai des brumes“ oder „Le jour se leve“ gelten als typische Beispiele des „poetischen Realismus'“. Wie würden Sie diesen Begriff definieren?

Wir haben in diesen Filmen die Realität personalisiert und in einem gewissen Sinn sublimiert. Auf der Leinwand, wie auch im Leben, scheue ich vor der Häßlichkeit, der alltäglichen Misere zurück. Deshalb haben wir die Wirklichkeit transformiert, in Charakteren verdichtet. Der „poetische Realismus“ war nie die Abbildung von Realität, er war stets eine arrangierte, eine Studio-Realität. Das „Hotel du Nord“ war ebenso ein artifizielles Dekor wie die Metrostation Barbes-Rochechouart in „Les portes de la nuit“ (1946). Es wäre auch ganz unmöglich gewesen, eine Feier zum 14.Juli, wie in „Hotel du Nord“ (1938), in den Straßen von Paris zu drehen.

Als ihr bekanntester Film gilt nach wie vor „Les enfants du paradis“ (1945). Wie entstand die Idee zu diesem Werk?

Ich hatte mit dem Produzenten einen Vertrag über drei Filme abgeschlossen. Nach dem Erfolg von „Les visiteurs du soir“ (1942) plante er einen großen Film, ein spektakuläres Fresko. Also suchten wir nach einem geeigneten Projekt. Da wir während der deutschen Okkupation bei einem zeitgenössischen Stoff den Eingriff der Zensur fürchteten, hatten wir beschlossen, die Handlung in die Vergangenheit zu legen.

Eines Tages trafen wir in Nizza auf der Promenade des Anglais zufällig Jean-Louis Barrault. Er erzählte uns die Geschichte von Debureau, der, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, mit einer Mätresse am Arm, über den Boulevard des Crime flanierte, als plötzlich ein Betrunkener begann, seine Begleiterin zu beleidigen. Debureau versetzte dem Säufer schließlich einen Hieb mit seinem Stock, an dem der Mann starb. Ganz Paris war Zeuge dieser Auseinandersetzung und strömte herbei, um der Verhandlung gegen Debureau beizuwohnen.

Wir überlegten, ob diese Geschichte nicht eine gute Idee für ein Drehbuch abgeben würde. Obwohl Prevert zunächst skeptisch war, eilte ich nach Paris, suchte im Musee Carnevalet nach Dokumenten, sah mich in den aufs Theater spezialisierten Buchhandlungen in Saint Germain-des-Pres nach Literatur um, und begann Photographien zusammenzutragen. Dieses dokumentarische Material bildete dann die Grundlage für den Film.

Es wurde schnell deutlich, daß der Film sehr lang werden würde, da wir entschlossen waren, uns Zeit zu nehmen, das Genie der handelnden Personen darzustellen. Ich erklärte dem Produzenten unser Vorhaben, der zunächst die hohen Kosten scheute, dann jedoch vorschlug, den Film in zwei Teilen zu drehen. Ich akzeptierte nach Rücksprache mit Prevert unter der Bedingung, daß „Les enfants du paradis“ zunächst exklusiv und ohne Zäsur in Paris gezeigt werden würde.

Stellte Sie die Realisierung des Projekts vor große Schwierigkeiten?

Nein, die Dreharbeiten erwiesen sich nicht als besonders schwierig und stellten uns vor weit weniger Probleme, als diejenigen von „Les visiteurs du soir“.

Während der Okkupation stellten Sie die Dreharbeiten von „Les visiteurs du soir“ sicher nicht nur wegen technischer Probleme vor Schwierigkeiten. Einige Mitglieder der Equippe waren Juden.

Das ist richtig. Sowohl Alexander Trauner als auch Joseph Kosma, der Komponist, waren Junden und mußten im Geheimen arbeiten. Für uns war es eine einfache Geste der Menschlichkeit, ihnen Arbeit zu verschaffen.

Ihr Film „Les tricheur“ (1958) wurde von den Vertretern der Nouvelle Vague heftig attackiert und galt ihnen als ein Beispiel für das überlebte französische Kino. Wie sehen Sie heute Ihr Verhältnis zur Nouvelle Vague?

Im Grunde hat ihnen ein Film für „Les tricheur“ erst deren eigene Arbeit ermöglicht. Die ausgehenden fünfziger Jahre waren in Frankreich eine Zeit der froßen Stars wie Bardot und Gabin. Mit „Les tricherus“ habe ich damals den ersten Film ohne Stars gemacht. Dennoch war er an der Kinokasse der erfolgreichste Film des Jahres. Die Produzenten erkannten nun, daß man einen Film ohne großes Staraufgebot drehen und dennoch finanziellen Erfolg haben konnte. Diese Erkenntnis hat der Nouvelle Vague den Eintritt ins Metier wesentlich erleichtert. Es stimmt, „Les tricheur“ wurde von ihren Vertretern angegriffen, aber ein Teil der Presse, wie 'Le Figaro‘, sprach von einem Meisterwerk.

Bereits Ihr Film „Les portes de la nuit“ war heftigen Kontroversen ausgesetzt.

In der Tat. Vor allem Prevert wurde attackiert, während ich einigermaßen glimpflich davonkam. Die Kritiken des Films waren miserabel, und die Zuschauer stritten sich während der Vorführung im Saal. Man pfiff und buhte. „Les portes de la nuit“ war ein Film mit politischer Dimension, wie überhaupt die ganze Epoche sehr politisiert war. Es ging um die Frage von Kollaboration und Resistance während der Okkupation, ein Thema, das auch der Film aufgreift. In der Geschichte, die er erzählt, gehören die Arbeiter der Resistance an, während die Großbürgerlichen mit den Deutschen kollaborieren. Wenn man die Interessen eines Industriellen bedenkt, finde ich das nicht weiter ungewöhnlich.

Aber wie gesagt, damals war der Film sehr umstritten. Abgesehen von der Besetzung der Hauptrollen durch Nathalie Nattier und Yves Montand - es war Montands erste Rolle, und er war zu diesem Zeitpunkt noch kein besonders guter Schauspieler - mag ich „Les portes de la nuit“ sehr. Es gelingt dem Film, in der Rekonstruktion eines Pariser Quartiers, etwas von dem Klima dieses letzten, unglaublich kalten Winters während der Okkupation einzufangen.

Wir haben gehört, Sie seien im Begriff, einen neuen Film über die impressionistischen Maler vorzubereiten. Wie weit ist die Verwirklichung dieses Projekts fortgeschritten?

Ich habe tatsächlich die Idee zu einem solchen Film, doch es wird mir wohl nicht gelingen, sie zu realisieren. Sei es, daß ein solcher Film zu teuer würde, jedenfalls habe ich immense Schwierigkeiten und finde keinerlei Unterstützung. Auch nicht seitens der Regierung.

Im Rahmen seiner Jacques-Prevert-Retrospektive (noch bis 1.Oktober) zeigt das Berliner Arsenal noch heute und am Sonntag Carnes „Les portes de la nuit“ und am Donnerstag und Samstag „Die Kinder des Olymp“.