Ich weiß nicht, was morgen ist

■ Die sowjetische Regisseurin Marina Goldovskaja hat den ersten Film über einen Gulag gedreht. „Die Macht von Solovki“, ab morgen im Kino

Frage: Frau Goldovskaja, Die Macht von Solovki ist der erste sowjetische Film über einen Gulag. Wurde der Film auch schon in der Sowjetunion gezeigt oder ist er wie andere sowjetische Dokumentarfilme bisher nur im Ausland zu sehen?

Marina Goldovskaja: Ich habe natürlich damit gerechnet, daß der Film eine bestimmte Zeit im Regal bleiben wird, weil ich der Meinung war, daß die Zeit dafür noch nicht reif genug ist. Aber ich habe mich geirrt, es war gerade die richtige Zeit.

Wann wurde der Film gestartet?

Die offizielle Premiere fand im größten Kino Moskaus, das über 2.500 Zuschauerplätze verfügt, statt. Genau am Jahrestag der stalinistischen Verfassung, am 5.Dezember 1988, das heißt wir haben an diesem Tag Stalin das erste Geschenk gemacht. Die Premiere in Leningrad haben wir am 21.Dezember organisiert, am Geburtstag des verstorbenen Josef Dschugaschwili, das war unser zweites Geschenk für Stalin.

Wurde der Film auch in anderen Landesteilen gezeigt?

Ja, wir haben 750 Kopien ziehen lassen. Der Film fand im ganzen Land große Verbreitung.

Wie waren die Reaktionen in der Sowjetunion?

Der Film wurde schon lange vor dem offiziellen Start berühmt, weil er bereits im Oktober 1988 in Moskau zur Eröffnung der Saison im „Domkino“, das ist das Haus der Filmschaffenden, gezeigt wurde. Dadurch ist er sehr populär geworden, ganz Moskau sprach darüber. Nach der Premiere im „Domkino“ haben sich sehr viele Menschen den Film angeschaut. Das waren auch noch keine offiziellen Vorführungen, sondern Sondervorstellungen für Studenten, Parteifunktionäre, den KGB oder für Arbeiter. Man hat mich überall eingeladen, damit ich über den Film erzähle, über das Thema und die Entstehungsgeschichte. Die Macht von Solovki wurde sofort überall akzeptiert und angenommen.

Hat es auch Kritik von konservativer Seite gegeben?

Natürlich! Jede Filmvorführung artet in ein Meeting aus. Die Jugendlichen haben den Film sehr gut aufgenommen, ebenso die mittlere Generation. Die älteren Menschen machten uns natürlich viel mehr Probleme: „Schämt ihr euch nicht, was macht ihr überhaupt? Wenn man diesen Film im Ausland sieht, was wird man von uns halten?“ Sie meinten, man brauche diesen Film überhaupt nicht. Auch die Pressestimmen waren sehr verschieden. Die meisten waren aber positiv. Aber viele alte Veteranen schrieben empörte, bitterböse Leserbriefe. Man warf mir vor, an den Grundfesten des Sozialismus zu rütteln oder einen antikommunistischen Film gemacht zu haben.

Gab es Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung oder der Produktion des Films?

Doch, es gab sehr viele Schwierigkeiten, weil wir anfangs überhaupt kein Material hatten. Wir hatten keinen Zugang zu irgendwelchen Archiven. Wir baten auch zunächst nicht darum: Wir hatten Angst, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, wir dachten, wer weiß, vielleicht wird es irgendeiner Behörde nicht passen, daß wir an diesem Thema arbeiten, und sie werden uns daran hindern.

Wie lange haben Sie an diesem Film gearbeitet?

Die Produktion dauerte offiziell zehn Monate. Über die ganzen Recherchearbeiten, um die noch lebenden ehemaligen Häftlinge zu finden, könnte ich einen ganzen Roman schreiben. Jeden von unseren Zeugen haben wir nur mühsam und mit großem Zufall gefunden. Fünf Monate haben wir ganz intensiv von früh bis spät gearbeitet.

In Ihrem Film zeigen Sie nur die Opfer, aber nicht die Täter. Man sieht einen Lagerkommandanten, aber nur von hinten, mit schwarzem Balken vor den Augen. War das anders nicht möglich?

Nein, es ist nicht so, daß man uns gehindert hätte, irgend etwas zu sagen oder zu zeigen. Wir kannten einfach vieles nicht.

Während der Dreharbeiten war ich noch nicht hundertprozentig sicher, ob es sich bei diesem Mann wirklich um einen Mörder handelt. Ich hatte noch keinen Zugang zu den Dokumenten. Erst als der Film schon abgedreht war, bekam ich das Beweismaterial in die Hände. Wenn wir schon davon reden, daß wir einen Rechtsstaat aufbauen wollen, kann ich solche Anklagen nicht erheben, ohne die notwendigen Beweismittel zu haben. Der Sohn dieses Killers rief mich eine Woche, nachdem er den Film gesehen hatte, an und drohte, mich vor Gericht zu bringen, weil sein Vater niemals ein Mörder gewesen sei. Als ich ihm sagen konnte, er solle zu mir kommen und sich die Dokumente anschauen, verschwand er.

Sie erwähnen in Ihrem Film am Rande, daß auch deutsche KZ -Häftlinge in Solovki waren.

Hitler und Stalin waren sich sehr ähnlich. Sie machten die gleiche Politik und waren Freunde. So tauschten sie auch gegenseitig ihre Kommunisten aus. Ich war sehr überrascht, als ich das herausfand. Stalin hat sogar die Freiheitskämpfer für den spanischen Bürgerkrieg zur Immigration nach Rußland eingeladen und dann in Solovki interniert.

Der Film endet ziemlich abrupt mit der Auflösung des Lagers 1939, ohne eine Erklärung dafür zu liefern oder die Geschichte der Überlebenden weiter zu verfolgen.

Ja, ich habe einen Film über das Lager von Solovki gemacht, weil es das erste stalinistische Lager war. Die persönlichen Schicksale der Gefangenen sind eine ganz andere Geschichte. Ich war nur an Solovki interessiert. Mir ging es nur darum, das stalinistische Regime darzustellen. Und darum, wie die sowjetische Macht in die Macht von Solovki transformiert wurde. Das war für mich der springende Punkt.

Solovki liegt nur 60 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt. 1939 bereitete Stalin den Krieg mit Finnland vor. Er hatte Angst, all die Gefangenen würden Gewehre in die falsche Richtung schwenken. Deshalb hat er das Lager 1939 aufgelöst.

Wird es in Zukunft mehr solcher Filme geben?

Ich denke schon. Heute haben wir in der Sowjetunion praktisch überhaupt keine Zensur mehr. Alle Filmleute und Künstler genießen absolute Freiheit. Es begann schon 1986, als ich den ersten Film über Perestroika machte, der jetzt für eine staatliche Auszeichnung nominiert wurde. Es war der erste Film, in dem wir versuchen, alles zu sagen, was wir denken und fühlen. Heute haben wir die absolute Freiheit. Aber ich weiß nicht, was morgen ist.

Interview: Marina Schmidt