Fallende Masken im Tal der Tränen

■ Unterwegs zeigen die MarathonläuferInnen ihr wahres Ich / Vom drogengeschwängerten „runners high“ keine Spur / Feldbetten des DRK waren sehr beliebt / Die Zielgerade wird zum Laufsteg / Das Ziel ist längst nicht das Ziel der Träume

„Die Maske fällt, es bleibt der Mensch, und alles Heldentum entweicht.“ Rousseau scheint schon vor 200 Jahren die Marathonwelle vorausgeahnt zu haben. Wieder war mit dem Startschuß zum Berlin-Marathon der Jahrmarkt der Eitelkeiten beendet. Was beim let's go-Signal Walter Mompers zählte, waren weder poppige Trikots noch Schuhwerk mit elektronischem Schrittzähler. Das sonnige Wetter trieb viele StarterInnen zu wagemutigen Spielchen. Schon in Moabit, nach ungefähr fünf Kilometern, standen sie mit klammen Waden und stechender Seite am Straßenrand: aus und vorbei, wer dennoch bis zum Schluß durchstand, muß durch die „Hölle“ gegangen sein.

Dafür gewann Moabit, ganz knapp hinter Steglitz und Kreuzberg, einen Sonderpreis für das begeisterungsfähigste Publikum. Besonders die Zuschauer im Süden, an den strategisch wichtigen Kilometerpunkten 25 bis 30, rüttelte manchen Marathoni aus seinen quälerischen Selbstzweifeln. Hier ging es durch eine enge Menschengasse, so daß auch noch im Ziel manchem die Ohren gedröhnt haben müssen. Bereits am „Kap der Guten Hoffnung“ bildete sich ein wahrer Stau aus bunten Hemden. Orangenschalen verwandelten den Asphalt in einen gemein glitschigen Belag; die Feldbetten des Roten Kreuzes erfreuten sich großer Beliebtheit. „Keep on running“, dieser Spencer-Davis-Hit rasselte auf das LäuferInnenmeer, aber die meisten dachten nur an Peter Alexanders „So richtig nett ist's nur im Bett“.

Die durchhielten und ins „Tal der Tränen“ (Hohenzollerndamm) gelangten, wurden mit Sambarhythmen empfangen. Zuschauer jedoch, die LäuferInnen mit einem kräftigen Schuß körpereigenem Opium erleben wollten, wurden enttäuscht. Erst auf dem Ku'damm, den letzten beiden Kilometern, rissen sich die AkteurInnen nochmals zu einer Bravourleistung hin: Stil wurde urplötzlich wieder großgeschrieben, denn schließlich wollte man den wartenden FreundInnen und Verwandten ein erinnerungswürdiges Bild abgeben. Der Dauerstreß fiel ab, die letzten Hormone wurden freigesetzt. Zumindest im hinteren Mittelfeld, also Laufzeiten über vier Stunden, war die ärztliche Warnung vor einem finalen Spurt, der zum Kollaps führen kann, überflüssig. Vorbei an Aufräumtrupps des Veranstalters wuchteten die „letzten HeldInnen“ ihre Körper ins Ziel. Die eigentlichen Dramen spielten sich allerdings hinter der Zielmarkierung ab. Kollabierende Körper, aufgelöste Menschen, die sich nicht einmal mehr die frischen Socken anziehen konnten, Leute, die ihre Startnummern nicht mehr zu entziffern vermochten, um ihre Kleider in den entsprechenden Lkw-Depots abzuholen. Wenigstens den vielen VoyeurInnen an den zahlreichen Duschzelten wurde Kurzweil geboten. Aber das Berliner Publikum ist eben die Seele der Veranstaltung.

Jürgen Schulz