Ein Moment der Schwäche

■ Michael Gielens „Ensemble Modern“ in Schlachthofs Kesselhalle

Über die ewige Jungfräulichkeit von Musik könnte man spekulieren, ja geradezu melancholisch werden, angesichts der ungebrochenen Frische einiger älterer Werke der „Moderne“. Im Zeitalter der manischen Uraufführungssucht und vermehrt dilettantischen Komponierlust, verjüngen sich die Produktionen, die eigentlich schon Geschichte sein müßten. Anton Weberns Sym

phonie op. 21 von 1928 gehört unbedingt in diesen Zusammenhang der andauernden, steigenden Aktualität hinein. Der Grund ist weniger, daß genialische Inspiration in überstiegener Unendlichkeit das Werk in den Pantheon göttlicher Kunst entsendet, sondern eher die Resistenz, mit der der gesellschaftliche Widerstand Weberns Oeuvre opponierend gegenüberstand und den unerbittlichen „stummen“ Aufschrei seiner Kompositionen nach und nach immer mehr hassen lernte. Um die zwingende Logik der Partitur in den Klang zu übertragen, bedarf es einer Sorgfalt und Akribie des Dirigenten, die - so es denn gelingt - in der Aufführung sich der Struktur gänzlich verschrieben haben muß. Der Dirigent Michael Gielen, Adorno-Preisträger und selbst noch dem Denken der zweiten Wiener Schule verpflichtet, machte in der Kesselhalle des Schlachthofes deutlich, daß das Geheimnis dieses Stückes auch bei hundertmaligem Hören nie recht gelüftet werden wird. Der Komponist Gielen folgte stehenden Fußes mit einem Auftragswerk: „Pflicht und Neigung“ (1988). In drei Teile ist der Aufbau gegliedert, die jeweils aus verschiedenen „Topoi“, also musikalischen Zuständen („Repetitiv-Zwanghaft“, „Dramatisch“, „Akkorde“, etc.) zusammengesetzt sind. Beruhend auf dem Ma

terial des Streichquartettes von 1983 sind hier Fenster (Soli) eingefügt, die nach Gielen „einer größeren Gelassenheit“ Ausdruck geben sollen als es in der Kammermusik der Fall ist. Dennoch, die Pflicht („Zwanghaftes“) überwog. Zwar kommt keinen Moment Langeweile auf, wie sonst bloß zu oft im zeitgenössischen Komponiereinerlei, doch verbleibt alles im gewohnten konventionellen Rahmen (trotz der Verwendung eines DX 7). Ein überdurchschnittliches Stück, dem nur ein Quentchen mehr Phantasie und Wagnis - statt der Geborgenheit der Tradition

-fehlt. Neben den beiden genannten Werken und Stockhausens „Kontra-Punkte“, war Schönbergs „Kammersymphonie op. 9“ das mitreißendste Ereignis des Konzertes. Das „Ensemble Modern“ entfesselte einen wahren Sturm expressiver Detonationen. Das sehr schnelle Grundtempo ließ das berühmte Quartenthema zu Beginn explosionsartig aufsteigen. Ein ununterbrochenes Wogen und Tosen, welches den Hörer kaum ruhig auf dem Stuhl hält. Nahezujeder Augenblick lyrischen Verhaltens wird kurze Zeit später jäh aus dem Verweilen gerissen, in dem sich der Ausdruck bisweilen brachial seine Bahn bricht.

In einem winzigen Moment der Schwäche, der vom ganzen

„Festival„-Brimborium absieht, müßte man schwärmen: Ein phantastisches Konzert!

H. Schmidt