Auf der Flucht vor der Kultur der Väter

■ Töchter arabischer Einwanderer in Frankreich im Konflikt zwischen den Kulturen / Häufig werden sie in der Heimat zwangsverheiratet / Sie aber wollen als Französinnen leben

Der Vater hat ihnen „verziehen“, die Mutter haben sie seit dem vergangenen April nicht mehr gesehen, wohl aber etwas von ihr gehört. „Wir wollten die Beziehung zur Familie nicht abbrechen“, erzählen die Schwestern Scheherazade (22) und Oleia Homm (19), deren Geschichte die französischen Medien begierig aufgriffen. Eine Geschichte, die bei aller Dramatik noch einen verhältnismäßig guten Ausgang fand. Oder wie sonst soll man es deuten, wenn ein muslimischer Vater nicht über die Maßen in seiner Ehre gekränkt ist, nachdem zwei seiner Töchter im französischen Fernsehen (das auch im Heimatland der Eltern - Algerien - empfangen werden kann) über ihre Abkehr vom Elternhaus berichtet haben? Scheherazade und Oleia leben wieder in Paris - der Stadt ihrer Geburt -, während die Eltern mit zwei weiteren Kindern in Algerien bleiben. Im April schlichen Scheherazade und Oleia aus dem in der Sahara gelegenen Haus ihrer Familie in El Oued (650 Kilometer südöstlich von der Hauptstadt Algier), ohne Gepäck, mit nichts weiter als zwei Flugtickets. In der Hauptstadt tauchten die beiden wochenlang unter und warteten den 19. Geburtstag der jüngeren Schwester Oleia ab. Nach algerischem Recht das Datum ihrer Volljährigkeit. Scheherazade und Oleia konnten nun das Heimatland ihrer Eltern legal verlassen, um in ihre Heimat - Frankreich - zurückzukehren.

Scheherazade arbeitet derzeit in der Auftragsannahme eines Kurzwarengroßhandels, Oleia verdient ihr Geld als Verkäuferin in einem Uhrengeschäft. Beide wollen mit der Abendschule beginnen.

Daß Mädchen aus den Familien von Einwanderern aus dem Maghreb, die also aus Marokko, Tunesien und Algerien kommen, in der Pubertät aus dem Elternhaus flüchten, ist so ungewöhnlich nicht. Aber für die meisten geflüchteten Mädchen ist ein öffentlicher Auftritt völlig undenkbar - zu groß ist die Angst, vom Vater oder von den Brüdern aufgespürt zu werden. Schwerer als der Wunsch nach Öffentlichkeit wiegen nach geglückter Flucht ganz andere Fragen: Wo schlafen, wenn nicht auf der Straße? Wo arbeiten, wenn nicht in der Prostitution?

Nachdem die Eltern im Jahr 1985 die Rückkehr von Frankreich nach Algerien entschieden hatten und sich die Töchter gegen ihren Willen in einem Flugzeug von Paris nach Algier wiederfanden, mußte sich Oleia im Sommer 1988 in Paris der Therapie einer Wirbelsäulenverrenkung unterziehen, die in Algerien nicht behandelt werden konnte. Zwei Monate vor ihrer Volljährigkeit nach französischem Recht - also ihrem 18.Geburtstag - flüchtete sie bei dieser Gelegenheit aus dem Haus ihrer Familie in Paris, wo sie mit dem Vater und drei Brüdern zusammenlebte. Denn während alle Kinder algerischer Eltern, die nach der Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie Algerien im Jahr 1962 in Frankreich geboren wurden (die sogenannten „beurs“), mit ihrem 18. Geburtstag das Recht haben, zwischen der französischen und der algerischen Staatsangehörigkeit zu wählen, hinderten die Eltern Oleia daran, sich frei zu entscheiden. Ihr wurde verboten, sich die französische Identitätskarte ausstellen zu lassen.

Noch minderjährig, trat Oleia vor einen französischen Richter. Dieser riet ihr, sich weiter bis zu ihrer Volljährigkeit zu verstecken und an ihrem 18. Geburtstag wiederzukommen. Auf andere Weise könne er ihr nicht zur französischen Nationalität verhelfen. Wenig später jedoch kam der Vater ihr auf die Spur: er packte sie ins Flugzeug Oleia verbrachte ihren 18. Geburtstag in El Oued. Sie durfte das Haus nicht verlassen: Keine Schule, kein Ausgang mehr.

Bei aller Bitterkeit hat Oleia ihre Achtung für den Vater bewahrt. Sehr früh hat sie - genau wie ihre Schwester gelernt, mit der unüberwindbaren Kluft zwischen der arabischen und europäischen Welt zu leben. Sie kennt den Ehrenkodex islamischer Väter und Brüder, die die Jungfräulichkeit ihrer Töchter und Schwestern bis zu deren Heirat bewahren müssen, um ihren eigenen sozialen Status zu erhalten. Oleia weiß, daß es hier keine Diskussion mit ihrer Familie oder ein Abwägen zwischen den Familienmodellen im industrialisierten Europa und im Orient gibt. Gleichzeitig fühlte sie sich immer als Französin und wußte, daß sie als Frau einen westlichen Lebensstil beibehalten würde, also früher oder später aus dem Elternhaus würde fliehen müssen. Zwei Welten, die nicht miteinander zu versöhnen sind.

Scheherazade und Oleia sind ihren Eltern heute dankbar, daß sie ihnen in El Oued immerhin den Schulbesuch erlaubten, sie nicht gleich verheirateten und sie westliche Kleidung tragen durften. Das sind keine Selbstverständlichkeiten in einem Land, in dem das gesetzliche Mindestalter für die Heirat mit dem Familienkodex von 1984 zwar von 16 auf 18 Jahre heraufgesetzt wurde, in dem aber die von der sozialistischen „Front de liberation national“ (FLN) angestrebte Rechtsprechung sich gegenüber dem Koran kaum durchsetzen kann. Häufig werden in ländlichen Gegenden Algeriens junge Mädchen immer noch mit 13, 14 oder 15 Jahren verheiratet. „Wie im Gefängnis“

Sieben Monate lang war Ferouz Allali (25) nach einer Entführung im Jahr 1984 im Haus ihrer Familie in El Oued eingesperrt, bewacht von ihrem Bruder. „Ich habe diese Zeit wie im Gefängnis zugebracht“, erinnert sich Ferouz, die heute wieder in Paris lebt und in der Buchhaltung eines Elektronikgrossisten arbeitet. Bis heute fragen die Eltern und ihre Brüder - die nie der Drohung, nach Algerien zurückverfrachtet zu werden, ausgesetzt waren -, „wann kommst Du zur Familie zurück?“

Viele junge Frauen resignieren jedoch angesichts der allgegenwärtigen Verwandtschaft und deren ausgeprägtem Hang zum Klatsch („le telephone arabe“). Sie führen ein Doppelleben zwischen ihrer „arabischen“ Familie und ihren „französischen“ Freunden.

Während ich mit der Marokkanerin Soudade Benali (38), Vorsitzende der Pariser Frauenhilfsorganisation „Nan beur“, spreche, mußte diese gleichzeitig am Telefon einem Mädchen algerischer Abstammung zusprechen, die am Abend zuvor wegen Selbstmordgefahr ins Krankenhaus eingeliefert worden war. „Das ist kein Einzelfall“, erzählt Souade Benali, „der Vater des Mädchens drohte sie umzubringen, nachdem er herausgefunden hatte, daß sie einen französischen Freund hat.“

Aber Souade Benali rät den jungen Frauen arabischer Abstammung keineswegs, ihre orientalischen Wurzeln zu vergessen - im Gegenteil. „Weil die Araber und ihre Kinder hier in Frankreich zu den Benachteiligten gehören, entsteht bei den Kindern der 'zweiten Generation‘ der Eindruck, daß ihre Ursprungskultur nichts wert ist. Deshalb wollen wir den jungen Frauen ihr kulturelles Selbstwertgefühl wiedergeben.“ Bevor der Versuch vieler dieser Mädchen und Frauen, französischer sein zu wollen als die Französinnen, in Frustration endet, versucht Souade Benali daher einen anderen Weg: Sie empfiehlt ihnen die Lektüre der ägyptischen Schriftstellerin Nawal al Sadawi, einer Pionierin der arabischen Frauenbewegung.

Albrecht Meier, Paris