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Andererseits

■ Gemischte Gefühle und DDR-Exodus

So angefressen sie auch war, so war doch alles einfacher mit unserer linken Identität, bevor diese Bilder aus den Fernsehern quollen. Menschen, die heulen und schluchzen vor Glück, weil sie aus der DDR in die Freiheit entkommen sind. Zu uns. Von wegen Freiheit, die würden sich wundern. Wollten sicher ohnehin nur schneller an eine spießige Schrankwand kommen als in der DDR. Waren das nicht überhaupt Reaktionäre oder Querulanten?

Andererseits, stieg einem nicht selber das Heulen hinter die Augen, wenn man sie ansah, diese extatischen Grüne-Pässe -Schwänker, Donau-Durchschwimmerinnen und Alles-auf-ein -Karte-Setzer? Und als die DDR-Führung ihrem Jubel über das Tiananmenmassaker, die Richtigkeit des Niederpanzerns von Prag 1968 „Leserbriefen“ über den Menschenhandel folgen ließ, mit dem ihr Staatsvolk da aus dem Hort der Humanität und Friedensliebe „verschleppt“ wurde, dämmerte uns da nicht etwas?

Anderseits: Was heißt dämmern? Wir hatten gewußt, daß die DDR neben der CSSR des Stalinismus letzte Beute und Reform nötig war. Abgesehen davon war das Befinden der DDR nicht so sehr unser Problem gewesen. Wir, die Linke in der Bundesrepublik, hatte das spätestens nach dem Mauerbau abgehakt: Stabilisierung fördern, Demokratie würde sich einstellen. Im übrigen hatten wir mit Umweltverseuchung, Rechtsradikalismus, Arbeitslosigkeit weiß Gott dringlichere Probleme.

Andererseits, dieses Auswandern des 'Volkes‘ durch das allererste Loch im Eisernen Vorhang, seinen Ekel an der 40jährigen DDR, hatte das nicht einen Druck, gegen die man sich schlecht wehren konnte?

Andererseits, war der nationale Taumel von „Bild“ bis Bahnhof nicht widerlichster Rückfall in die Zeiten des Kalten Kriegs? Sollten wir uns nicht die peinliche eigene Ergriffenheit als nationalistische Entgleisung in den Hals zurückstopfen samt dem Schrecken über 40 Jahre Nicht -Demokratisierung ? Und dem Taumel energischen Widerstand bieten, uns orientieren auf West-Europa, der DDR Stabilisierung anraten, auf den diskreten Stop des Exodus durch unsere Regierung warten, die Hilfsbereitschaft gegenüber den Ostdeutschen als Kehrseite der Ausländerfeindlichkeit brandmarken? Das hätte den Vorteil, unsere linke Identität zu stabilisierenauf auf dem Niveau vor den verwirrenden Bildern. Es hätte den Nachteil, diesen unfreiwilligen Blick hinter die Mauer mit eingefahrenen Politikmustern zu verdrängen. Den Realitätsschock, der darin besteht, daß der sozialistische deutsche Teilstaat trotz Geld und guten Worten heute politisch „unstabiler“ ist als vor 40 Jahren.

Uta Stolle

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