„Antistalinismus von unten“ wird gefordert

■ Sowjetische Historikergruppe „Memorial“ diskutierte mit Berliner Geschichtswerkstatt / Mehrere zehntausend Dokumente

„Der allgemeinen Gedächtnislosigkeit in der Sowjetunion entgegenwirken“ will die unabhängige Gesellschaft für historische Aufklärung „Memorial“, die sich dort seit Anfang des Jahres bereits in rund 100 Städten organisiert hat. Sie ist mit mehreren Ausstellungen und Dokumentationen über die Geschichte der Kirche, die Dissidenten in den 60er und 70er Jahren und über den Hitler-Stalin-Pakt auf ein breites Interesse in der sowjetischen Öffentlichkeit gestoßen. Zum Abschluß ihrer zehntägigen Reise durch die BRD, die auf Einladung der Grünen zustande kam, diskutierte eine dreiköpfige Delegation aus Moskau am Montag abend im Schöneberger Rathaus mit der Berliner Geschichtswerkstatt.

Ähnlich den westdeutschen Geschichtswerkstätten versucht Memorial über Zeugenbefragungen und Dokumentesammlungen eine „Geschichte von unten zu schreiben“, wie Nikita Ochotis den rund 50 Versammelten erläuerte. Ihr Ziel sei es, „die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Repressalien zu erhalten und zu verewigen“. Dazu hätten die unabhängigen Forschungsgruppen bereits „mehrere zehntausend Dokumente aus den geheimnisvollen Episoden der sowjetischen Geschichte“ gesammelt, berichtete Ochotis. Zur Auswertung jedoch sei bisher kaum Zeit geblieben. Zwar würden die Gegenhistoriker von höchster Stelle anerkannt und selbst von Gorbatschow persönlich unterstützt, doch ihre Arbeit im Alltag werde durch die nach wie vor unter Verschluß gehaltenen Archive von Partei und KGB erheblich erschwert. Zugang zu den KGB -Archiven erhielten nur jene Memorial-Gruppen, die sich explizit apolitisch darstellten.

Viele Zeugen des stalinistischen Terrors seien bis heute noch psychisch traumatisiert, klagte Jelena Schemkowa. Auch vermischten sich die Rollen von Opfern und Tätern. Die Vollstrecker der Repressalien seien weitgehend über ihre Vergangenheit verschwiegen. Erst eine Person sei von selbst zu Memorial gekommen, „um zu bereuen“.

Im Unterschied zu den alternativen Geschichtswerkstätten in der BRD müßten die sowjetischen Geschichtsinitiativen „ganz von vorn anfangen“, erläuterte die Delegation. Die etablierten Historiker seien „Lügner“ und bisher zu dem ganzen Komplex des Stalinismus untätig geblieben. „Wir müssen dem Volk helfen, seine Vergangenheit zu finden, um seine Zukunft zu bestehen“, heißt es im Gründungspapier von Memorial. Die Politik der Glasnost sei bloß „Antistalinismus von oben“ und somit wirkungslos ohne eine „Antistalinismus von unten“. Als politisches Ziel formulierte Ochotis die Entwicklung einer „Straßendemokratie“ und eine weitere Offenheit gegenüber anderen Meinungen. Vor den letzten Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten unterstützte Memorial die reformfreudigen Kandidaten.

Rainer Kreuzer