Moderne Zeiten für Spaniens Milchproduzenten

Der Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft treibt Rindvieh-Halter in Existenznöte / Brüssel verlangt von Spanien, immer weiter unter dem eigenen Bedarf zu produzieren / Die Abhängigkeit von der Milchindustrie wird immer umfassender / Eine bisher ruhige Region wird rebellisch  ■  Von Gabriela Simon

Diesmal hatten die Beschäftigten von Nestle im nordspanischen Santander wirklich Angst um ihren Betrieb. Nicht daß der Schweizer Nahrungsmittelmulti etwa kalte Rationalisierungspläne verfolgte und die Produktionsstätte im grünen Kantabrien schließen wollte. Schuld war vielmehr ein heißer Konflikt zwischen den Milchbauern und der milchverarbeitenden Industrie in der Region vor einigen Wochen. Die Milchproduzenten sind aufgebracht über ihre industriellen Abnehmer. Man hatte zu einem Marsch auf Santander mobilisiert, dem Sitz des staatlichen Unternehmens „Sam-Ram“ (neben Nestle eines der großen im kantabrischen Milchsektor). Sam-Ram und seine Beschäftigten fühlten sich sogleich in der Defensive und wollten mit einer öffentlichen Erklärung die Blitze ableiten: „Ruhe und Besonnenheit“ wird von den „Ganaderos“, den Milchbauern, erbeten, „da wir ja auch unsere Arbeitsplätze verteidigen müssen“. Und: „Warum nicht Nestle?“ fragen die Sam-Ramler unmißverständlich im Hinblick auf mögliche Aktionen der Ganaderos.

Ein paar Wochen vorher, im Hochsommer, hatten die aufgebrachten Milchbauern nach einer Protestveranstaltung die Fabrik des katalanischen Milchunternehmens ATO-Collante in Brand gesteckt und diverse Joghurt- und Quarkmaschinen demoliert. 50 Arbeiter ohne feste Anstellungsverträge waren nach dem Brand entlassen worden.

Eigentlich sind die kantabrischen Milchproduzenten bisher in der Geschichte nie aufgefallen; das gibt auch Francisco Rodriguez, Regionalsekretär des Verbandes der „Jungen Landwirte“, der hier die meisten Milchproduzenten organisiert, unumwunden zu. Als „unpolitisch“ und „ziemlich konservativ“ beschreibt Rodriguez die Bauern in der Region. Zwischen dem unruhigen Baskenland und der Bergarbeiterregion Asturien mit ihren kämpferischen Traditionen gelegen, blieb das ganz von der Milchproduktion geprägte Kantabrien fast ein unbeschriebenes Blatt in der Geschichte - bis zum Eintritt Spaniens in die Europäischen Gemeinschaft.

1987 - ein Jahr war seit dem Beitritt zur EG vergangen gab es die ersten Proteste. Die spanischen Milchproduzenten sollten, so will es eine Vereinbarung der EG-Agrarminister, ihre Produktion jährlich um drei Prozent verringern. Ungerecht und auch wirtschaftlich unsinnig fanden das nicht nur die spanischen Bauern. Spaniens Milchproduzenten decken schließlich nicht einmal den Bedarf des eigenen Landes. So dient die Regelung vor allem dazu, die spanischen Märkte für Frankreichs Überschüsse freizumachen.

Nun sammelte sich seit Anfang dieses Jahres neuer, hochexplosiver Zündstoff an. Die Gunst des Modernisierungsschubs und der Umstrukturierung des Milchmarktes nutzend, versuchten die milchverarbeitenden Unternehmen Kantabriens, ihre Macht über die Produzenten auszubauen. In einer gemeinsamen Aktion senkten sie den Abnahmepreis für die Milch auf den staatlich festgesetzten Mindestpreis ab. Einen staatlichen Mindestpreis gab es zwar schon vorher, aber die Unternehmen hatten den Bauern auf Vertragsbasis deutlich mehr gezahlt. Innerhalb kurzer Zeit sanken die Einkommen der Bauern um bis zu 30 Prozent, und während sich die Unternehmer nicht einmal auf Verhandlungen einlassen wollten, bemerkten die Bauern die zweite Falle, die die Fabrikherren für sie vorbereitet hatten: Per Absprache verhinderten sie fortan, daß die Milchproduzenten von einem Abnehmer zum anderen wechseln und die Molkereien so gegeneinander ausspielen können. Bauern, die - mit ihrem Abnehmer unzufrieden - den Vertrag kündigen und versuchen, ihre Milch unter besseren Bedingungen an eine andere Fabrik zu verkaufen, müssen seitdem reumütig wieder zu ihrem alten Abnehmer zurückkehren, weil sie von allen anderen abgelehnt werden.

Der Schweizer Multi Nestle, der nach Einschätzung von Bauernfunktionär Rodriguez im katalanischen Milchsektor über einen stattlichen Marktanteil von etwa 20 Prozent verfügt, macht seinem schlechten Ruf auch hier alle Ehre: Als einziges Unternehmen lehnt Nestle organisierte Bauern (zum Beispiel Kooperativen) als Milchlieferanten ab. Hat der Weltkonzern Angst, daß ihm einige kantabrische Bauern die Marktmacht streitig machen könnten? 14. August, Santander. Die Milchfabriken der Stadt werden von einem großen Polizeiaufgebot bewacht. Aus dem Provinzstädtchen Orejo schiebt sich eine mehrere Kilometer lange Autoschlange einiger tausend Bauern langsam ins Zentrum Santanders, bis dort der Verkehr in der Innenstadt zusammenbricht. Hier haben die Gewerkschaftsvertreter der Ganaderos Flugblätter verteilt, in denen sie die Konsumenten zum Boykott der Produkte von Nestle und Sam-Ram auffordern.

Die Bauern, die mehrere Stunden lang dicht gedrängt zu viert oder zu fünft im Auto saßen, haben je eine Flasche Milch und ein Huhn mitgebracht, die sie - als Geste des Protests - vor dem Portal des Regierungssitzes deponieren. „Die Regierung“, meint Francisco Rodriguez, „muß in diesen Konflikt eingreifen, weil die Unternehmer ja nicht einmal zu verhandeln bereit sind.“

Auf lange Stöcke gestützt, mit denen sie normalerweise über Felder laufen und Kühe antreiben, pflanzen sich die Ganaderos dann auf der Straße vor dem Regierungssitz auf, stumm oder in kleinen Gruppen diskutierend. Keine Parolen, keine Kampflosungen sind zu hören; hin und wieder ein derber Witz, während die Polizisten damit beschäftigt sind, die zahlreichen Hühner im Zaum zu halten. Am nächsten Morgen können die Fabrikherren und ihre Beschäftigten beruhigt sein: Abgesehen von einigen brennenden Straßenbarrikaden in der Provinz wird an diesem Tag nichts Ungesetzliches mehr passieren.

Was hat sich eigentlich im Leben der kantabrischen Milchbauern durch den EG-Beitritt verändert? Nehmen wir zum Beispiel Rafael, der zusammen mit seinem Bruder Jesus und dessen Familie einen relativ großen Hof mit 20 Kühen und zwölf Hektar Land bewirtschaftet. Wenn Rafael jeden Morgen pünktlich um halb acht, während ein Teil der Familie noch schläft, seine Stiefel schnürt, den abgewetzten Filzhut aufsetzt und auf die Wiese hinter den Hof läuft, wenn sich dort die Kühe, die das Ritual schon seit vielen Jahren kennen, auf einen leisen Wink hin gemach in Richtung Kuhstall in Bewegung setzen, wenn Rafael die Nachzüglerinnen bei ihrem Namen ruft, „Paloma, Granada...“ - man könnte der Illusion verfallen, die Zeit sei hier auf wundersame Weise stehengeblieben.

Spätestens aber zehn nach acht reißt das Dröhnen der beiden Melkmaschinen den letzten Schläfer aus seinen Träumen. Die maschinell gemolkene Milch landet unverzüglich in einem vollautomatischen Kühltank, wo sie - auf 27 Grad Celsius abgekühlt - ein paar Tage lang ohne Wertminderung bleiben kann, bis sie von der Molkerei abgeholt wird.

Für Rafael und Jesus bringen diese Maschinen Arbeitserleichterung; klar ist den beiden allerdings auch, wie die Kehrseite dieses Modernisierungsprozesses aussieht: 75 Prozent der kantabrischen Milchbauern haben nämlich kaum eine Chance, auf den EG-Märkten jemals konkurrenzfähig zu werden. Und weil sie weniger als elf Kühe besitzen, sind sie auch gleich von den meisten staatlichen Subventionsprogrammen ausgeschlossen, mit denen Rafael und Jesus die Anschaffung der Geräte finanzieren konnten. Mehr als die Hälfte der Milchproduzenten Kantabriens kann sogar weniger als sechs Kühe ihr eigen nennen.

Der Modernisierungsprozeß konfrontiert die Ganaderos in erster Linie mit einer Reihe von Anforderungen, die die „Qualität“ der Milch betreffen: Sie muß gekühlt geliefert werden, sie muß bestimmten Kriterien in einer chemischen und bakteriologischen Analyse standhalten. Letzteres wiederum hängt vom verwendeten Futter ab, dem „genetischen Material“, wie es im Fachjargon heißt, der medizinischen Versorgung der Kühe bis hin zum Grad der Technisierung des Kuhstalls. Dabei sind es stets die Milchfabriken, in deren Labors die gelieferte Milch analysiert wird; die Unternehmen sind es, die gestaffelte Preise für unterschiedliche „Qualitäten“ der gelieferten Milch festlegen. Sie kontrollieren so die Bedingungen der Modernisierung, und in ihren Händen liegt die Sanktionsgewalt gegenüber den Produzenten. Gerade für die Kleinbauern bedeuten die „modernen Zeiten“, daß sie sich zunehmend der Willkür der Unternehmen ausgeliefert sehen.

Konservativ? Das sind die Bauern allemal, wenn es darum geht, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen.