Kein Fußbreit Erde

■ Hamburger Kultursenat läßt Sinti und Roma aus Neuengamme vertreiben

Auf der einen Seite Westdeutschlands stehen freundliche Bürger mit Thermosflaschen, warmen Decken, laufenden Kameras, um die Ihrigen zu begrüßen: lachende, weinende, glückliche weiße Gesichter, Menschen ohne Vorwurf, befreit von ihrer Geschichte. Auf der anderen Seite Deutschlands, im Nordwesten, klammern sich Menschen mit braunen Händen an die Steine jener Klinkerwerkstatt, in der ihre Angehörigen zu Tode verarbeitet wurden. Sie haben an dieser Stätte Zuflucht gesucht, um ihre Ausweisung zu verhindern, und sie haben die politische Chuzpe gezeigt, an ihre Geschichte zu erinnern. Das ist mehr, als die Organe bürgerlichen Rechts ertragen können: Während Zigtausende dort begrüßt und bejubelt werden, geht die Behörde hier mit Hundertschaften der Polizei und Kettensägen gegen 300 Roma und Sinti vor.

Eine besonders grauenhafte Ironie will es, daß ausgerechnet die Kulturbehörde der Stadt Hamburg die „Räumung“ des Geländes Neuengamme verfügte - jene Behörde also, der die Pflege der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers obliegt. Ihr sensibles Verantwortungsgefühl hat die Stadt bereits 1948 bewiesen, als sie einen Teil des Geländes für den Strafvollzug bereitstellte; mit dem Bau einer geschlossenen Jugendhaftanstalt 1970 kam sie ebenso feinsinnig ihrer Verpflichtung nach. Mahnmal, Gefängnis und „Dokumentenhaus“ befinden sich nun in Nachbarschaft auf diesem Schlachthofgelände des Völkermords. 90 Prozent der hier zu Tode geschundenen Menschen waren Ausländer.

Die etwa dreihundert Sinti und Roma, die vor einigen Wochen ihr Lager dort aufschlugen, sind von demütigender Bescheidenheit und Würde in ihrem politischen Verlangen: Bleiberecht. In einer Gegenwart, in der jeder Quadratzentimeter Boden dieser Erde dem Eigentumsrecht unterliegt, gibt es für Staatenlose und solche, die es bleiben wollen, keinen Fußbreit Erde mehr, der Ruhe gewähren könnte. Wer nicht kaufen und nicht besitzen will, und wer als Überlebender politischer Verfolgung die Erinnerung nicht tauscht gegen die Zugehörigkeit zu einem Staat, der darf nicht einmal bleiben.

Die Innenbehörde Hamburgs hat verfügt, daß neben anderen Bedingungen des Bleiberechts „konkrete Ansätze zur Integration“ nachweisbar sein müßten. Der Zynismus dieser Forderung scheint niemanden zu irritieren. Das Deutsche Rote Kreuz, die bundesdeutsche Öffentlichkeit und ihre Politiker nehmen sich der Fremden gerne an, die ihnen nicht fremd zu sein scheinen und keinerlei Vorwurf in den Gesichtern tragen. Während die Republik ihr Bestehen preist und ihre Geschwister freundlich aufnimmt, greift sie mit Schlagstöcken die Heimatlosen an, die ihr Recht auf Fremdheit und Duldung machtlos zu verteidigen suchen. Nach der Austreibung der Scham vollzieht sich nun die Austreibung der Überlebenden: sollen die woanders sterben.

Elke Schmitter