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Falin mahnt Reformen an

Bonn (taz) - Valentin Falin, Deutschland-Experte im ZK der KPdSU, ist ein Meister der diplomatischen Formulierung. Seine Äußerungen gestern mittag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Egon Bahr in Bonn, können dennoch als deutliche Kritik an der DDR-Führung verstanden werden. Zur Situation in der Prager Botschaft sagte Falin: „Wenn schon Präzedenzfälle eine Rolle spielen, dann können wir davon ausgehen, daß auch dieser unerfreuliche Zustand eine optimale Lösung findet.“ Falin vermied den Eindruck, er wolle der DDR Vorschläge machen, aber unterstrich zugleich, daß der Flüchtlingsstrom aus der DDR nicht mit administrativen Mitteln zu bewältigen sei. Falin: „Im Interesse beider Seiten sollte man politische und auf dieser Grundlage juristische Regelungen treffen“, damit „diese Prüfungen uns künftig erspart bleiben“. Indirekt bestätigte Falin, daß Gorbatschow kein Interesse daran hat, seinen Besuch in der DDR am kommenden Wochenende im Schatten eines anhaltenden Flüchtlings-Debakels zu absolvieren: „Wir möchten, daß die Feierlichkeiten in heller Atmosphäre stattfinden.“

Ohne die SED direkt zu kritisieren, sprach sich der Gorbatschow-Berater für Reformen in der DDR aus: „Ich glaube diese Reformen stehen bevor.“ Es sei klar, daß „solche dynamischen Gesellschaften eine permanente Erneuerung brauchen“. In der DDR seien Probleme entstanden, weil „das Tempo der Erneuerung hinter dem Tempo der Entwicklung zurücksteht“. Falin präzisierte seine Äußerungen nicht, machte aber deutlich, daß er von der DDR-Führung politisches Handeln erwartet: „Ich gehe davon aus, daß nach den Erfahrungen der letzten Wochen alle weiser werden.“ Bewertungen der DDR-Politik wolle er erst nach einem Besuch in der DDR vornehmen, der in den nächsten Tagen stattfindet.

Valentin Falin und Egon Bahr hatten in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von KPdSU und SPD zuvor zwei Tage lang über „gesamteuropäische Fragen“ beraten. In dem mehr atmosphärisch gehaltenen Bericht über dieses Treffen betonte Falin, daß der Dialog „in sehr konstruktiver und kreativer Form“ geführt worden sei und er einem nächsten Treffen in Moskau „in großer und optimistischer Erwartung“ entgegen sehe. Die Ausladung einer SPD-Delegation durch die SED wurde dabei nicht angesprochen, doch Falins auffälliges Lob für die guten Beziehungen zur SPD kann als Wink in dieser Hinsicht verstanden werden. Das jetzige Treffen, auf dem auch über die aktuellen Entwicklungen gesprochen wurde, beweise nämlich, so Falin, „daß diese Art der Zusammenarbeit notwendig ist“.

Der SPD-Politiker Egon Bahr wiederholte gestern noch einmal seine Forderung nach einem Spitzengespräch von Kohl und Honecker. Es müsse in der Flüchtlingsfrage eine politische Lösung gefunden werden, „die permanente Wiederholung ausschließt“. Erwartungen an eine Einmischung der Sowjetunion wies Bahr zurück, indem er herausstellte, die Massen-Ausreisegenehmigung am zurückliegenden Sonnabend sei „nicht durch Einwirkung der Sowjetunion zustande gekommen“. Die Probleme müßten durch die beiden deutschen Regierungen gelöst werden.

Während Reformforderungen aus der SPD an die Adresse der SED-Führung sonst eher allgemein gehalten werden, hat der stellvertretende Parteivprsitzende Oskar Lafontaine am Montag abend vor Journalisten eine Präzisierung vorgenommen. Lafontaine forderte eine „Revitalisierung des Parteiensystems“ sowie die Zulassung freier Gewerkschaften. Ihm sei dabei klar, daß ein derartiger Parteienpluralismus auch die SED als Einheitspartei in Frage stelle. Um diese Forderungen solle aber die bisher bewährte Deutschland -Politik der SPD ergänzt werden. Der Parteivorsitzende Vogel hielt sich hingegen gestern bedeckt und äußerte sich nur extrem vorsichtig über konkrete Forderungen. Bei einem Zusammentreffen mit Falin versicherte Vogel das Interesse der SPD an einer „stabilen Entwicklung in Osteuropa“.

Charlotte Wiedemann

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