Jedes sowjetische Maß unterschritten

In Usbekistan hat die Baumwoll-Monokultur auch tiefe Kerben in der Gesellschaft hinterlassen / Die Kindersterblichkeit hat sich auf afrikanische Maßstäbe hochgeschraubt / Die Umweltverschmutzung wird zur Katastrophe / Die Usbeken sind die verachtete Mehrheit im eigenen Land  ■  Von Erhard Stölting

Noch immer gebietet die usbekische Nationalhymne „Grüße dem russischen Volk, unserem älteren Bruder“. Diese Grüße fassen lange Demütigungen zusammen. Die seit Stalin gültige Lehre, erst die Russen hätten dem Osten das Licht der wahren Zivilisation gebracht, rufen nun entsprechende Gegenreaktionen hervor.

Seit November 1988 hat auch Usbekistan seine Volksfront „Birlik“ (Einheit). Ihr Vorsitzender ist Abdurrahim Pulatov, Mitglied der usbekischen Akademie der Wissenschaften. Birlik organisierte am 13. März und am 21. März dieses Jahres, große Demonstrationen in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans. Gefordert wurde dabei die Anerkennung des Usbekischen, einer Turk-Sprache, als Staatssprache, Demokratisierung, staatliche Autonomie und eine Rettung der schwer geschädigten Umwelt. Am 28. Mai konstituierte sich Birlik offiziell. Seit August gibt die Volksfront ihre Zeitschrift, 'Birlik‘, heraus. In ihr kommen auch nationale Minderheiten zu Wort, wie die „Nationalbewegung der Krimtataren“ und die meschetische „Nationale türkische Vereinigung für eine Rückkehr in die Heimat“, die zurück in den Kaukasus wollen.

Auf den ersten Blick gleicht das Bild also dem vieler anderer Sowjetrepubliken: eine zugleich nationale, demokratische und ökologische Bewegung, die von Schriftstellern, Geisteswissenschaftlern und Künstlern initiert wird, eine sich ständig verbreiternde Anhängerschaft unter den gebildeten Bevölkerungsschichten gewinnt und schließlich zu einem politisch bestimmenden Faktor wird.

Die Realität sieht anders aus. In die Presse gelangte Usbekistan in den letzten Jahren jedoch mit eher unerfreulichen Nachrichten. Folgenlos wurde seit Jahren die ökologische Katastrophe, vor allem des Aral-Sees, öffentlich diskutiert. Seit dem Beginn der Kampagne gegen die Korruption im Jahre 1984 wurde Usbekistan zum Sinnbild der Korruption überhaupt. Das Pogrom an den Mescheten im Juni dieses Jahres rief nur Entsetzen hervor. Es verwies auch auf die Fähigkeit der alten Kader, nationalistische Stimmungen gegen die Perestroika zu mobilisieren. Birlik jedenfalls wandte sich mit einem beschwörenden Appell gegen diesen Pogrom an die Bevölkerung.

Mafia wie in Sizilien

Einer der Urheber des gegenwärtigen Schlamassels war Parteichef Raschidow, der in den 25 Jahren seiner Herrschaft das Land ruiniert hatte. Breschnew deckte seine Machenschaften und macht ihn zum Kandidaten des Politbüros der KPdSU. Dafür sorgte Raschidow für einen nach außen hin russenfreundlichen Kurs und sorgte mit eiserner Hand für Ruhe und Ordnung. Die gigantische usbekische Korruption erreichte aber schließlich nicht nur die Familie Breschnews unmittelbar, sie führte dazu, daß es kaum noch geeignete usbekische Kader gab, die sauber geblieben waren. Als Raschidow 1983 zum damaligen sowjetischen Parteichef Andropow zitiert wurde und daraufhin in Moskau Selbstmord verübte, hinterließ er eine Republik, die zur inneren Reform kaum noch fähig schien. Raschidows Nachfolger Usmanchodschajew mußte bald wieder gehen. Rafik Nichanow, der jetzige Parteichef war während der ganzen Zeit als Botschafter im Ausland. So steht er jetzt als Unschuldiger einer Herde von schwarzen Schafen vor.

Vor allem auf dem 27. Parteitag wurde Usbekistan zur Zielscheibe der Kritik. Ligatschow drohte mit der Entsendung von Funktionären aus der Zentrale. Es gebe in diesem multiethnischen Land sowieso zu wenig nicht-usbekische Kader. Tatsächlich nutzten in Usbekistan auch die slawischen Aufpasser nichts. Der Machtapparat liegt fest in einheimischer Hand. Nun kann jeder Moskauer Versuch, die Verhältnisse in Usbekistan zu ordnen, als imperialistische Einmischung abgewehrt werden. Seitdem Ligatschow nicht mehr für Kader zuständig ist, hält sich Moskau nun auch zurück.

Wie im Falle Siziliens wird jeder Versuch, die Mafia -Strukturen zu zerbrechen, als verleumderische Diskriminierung der Republik abgewehrt. Auf der Basis der vorhandenen Machtstrukturen kann sich jedoch nichts ändern. Unbestechliche Richter und Staatsanwälte haben in Taschkent ebenso viel zu fürchten wie in Palermo.

Ein berühmter Fall, der entsprechende sizilianische Beispiele noch übertraf, war der von Achmadschan Adylow, einem persönlichen Freund Raschidows und „Held der Arbeit“. Als Direktor eines agro-industriellen Komplexes baute er im Fergana-Tal ein kleines privates Imperium auf. Dort hatte er sich unterhalb eines riesigen Lenin-Denkmals sogar ein eigenes unterirdisches Gefängnis bauen lassen, in dem er aufmüpfige LandarbeiterInnen, Gegner und Kritiker einsperren und foltern ließ.

Ohne die Baumwolle sind weder die Korruption, noch das materielle Elend oder die Umweltkatastrophe zu erklären. Zwei Drittel der sowjetischen Baumwolle kommen aus den Oasen Usbekistans. Ziel der sowjetischen Wirtschaftspolitik war es, von Baumwollimporten unabhängig zu werden. Das weiße Gold wurde in die sozialistischen Länder Osteuropas und gegen Devisen - in den Westen exportiert. Entsprechend groß waren die Planvorgaben. 6,25 Millionen Tonnen jährlich sah der 12. sowjetische Fünfjahresplan (1985 - 1990) vor. Diese Zahl wurde aufgrund heftiger Proteste bis 1987 auf 5,25 Millionen Tonnen gesenkt. Aber auch jetzt ist Moskau noch nicht bereit, die Planziffern so weit zu senken, damit das Land gesunden könnte. Nach Birlik müßte der Plan dafür um eine weitere Million reduziert werden.

Massive Unterschlagung

Ohne massive Fälschungen waren die Planvorgaben nie zu realisieren. Aber gefälscht wurde nicht nur dafür. 4,5 Millionen Tonnen Baumwolle sind 1978-1983 unterschlagen worden, was jährlich Hunderte Millionen Rubel Verluste für den sowjetischen Staat bedeutete. Derartige Machenschaften setzen Verbindungen voraus, die in der Lage waren, den gesamten Staats- und Parteiapparat zu korrumpieren.

Die Monokultur ruinierte letztlich auch die Bevölkerung. Ohne Anbaufläche für Getreide, Obst und Gemüse und ohne Platz für Vieh, gestaltete sich die Ernährungslage verheerend. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch, Milch, Gemüse und Obst liegt um die Hälfte unter dem ohnehin nicht sehr hohen sowjetischen Durchschnitt. Aber die ländliche Bevölkerung, zu 59 Prozent Usbeken, lebt noch schlechter. Auf dem Land werden jährlich pro Kopf acht Kilogramm Fleisch gegessen - im Durchschnitt der Union hingegen 62 Kilo.

Mindestens ebenso schlimm für die Gesundheit wirkte sich der massive, ungehemmte Einsatz von Chemikalien aus. Die Agrochemie hat das Land vergiftet und das Wasser vielfach ungenießbar gemacht. Da auf den Feldern vor allem Frauen und Kinder arbeiten, traf es sie am schlimmsten. Die Kindersterblichkeit lag 1970 bei 31 Promille, 1986 bei 42,2 Promille. (Zimbabwe liegt bei 43 Promille, Anm. d.Red.) Die Zahl der behinderten Kinder stieg dramatisch an.

Kinderarbeit ist zwar verboten, aber die Ernte verlangt den Einsatz aller Kräfte. Der richtet sich nach der Baumwolle. Nicht nur die Gesundheit, auch das Bildungsniveau unterschreitet in Usbekistan daher jedes sowjetische Maß.

Letztlich führte die Monokultur auch zur Katastrophe des Aral-Sees, deren klimatische und wirtschaftliche Folgen weit über die Region hinausreichen. Denn von den Zuflüssen des Aral-Sees, dem Syr Darja und dem Amu Darja, ist durch schlecht funktionierende, schlampig installierte und unrationelle Bewässerungsanlagen so viel Wasser abgezweigt worden, daß dieses viertgrößte Binnengewässer der Erde allmählich austrocknet und sich in eine Salzwüste verwandelt. Das verwehte Salz frißt wiederum fruchtbares Land.

Eine gewisse Abhilfe hätte die Umleitung sibirischer Ströme nach Süden bringen können. Aber dieser Plan, dessen Realisierung unabsehbare Folgen in Sibirien gehabt hätte, ist auf Eis gelegt worden. Die Hoffnung darauf, daß er doch wieder aus den Schubladen geholt werden könnte, hat das politische Establishment in Usbekistan dazu veranlaßt, die Hände in den Schoß zu legen.

Die Probleme werden durch ein sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung verstärkt. Drei Prozent jährlich waren es in den letzten Jahren, was selbst nach Maßstäben der Dritten Welt sehr viel ist. Diese Zunahme wird nicht einmal durch die steigende Abwanderung der slawischen Bevölkerung aufgefangen, die nach dem Pogrom im Fergana-Tal den Charakter eines Exodus angenommen hat.

Wohnungen und Schulen fehlen

Auch die Infrastruktur ist diesem Zuwachs nicht gewachsen. Das Sinken der Weltmarktpreise für Baumwolle reißt auch im Staatshaushalt immer größere Lücken. Es fehlen Wohnungen und Schulen. Die medizinische Versorgung unterschreitet jedes sowjetische Maß.

Eine 1985/86 - in aller Stille - eingeleitete Kampagne zur Familienplanung wurde so ungeschickt begonnen, daß sie neue Konflikte heraufbeschwören mußte. Statt auf die wirklichen Probleme hinzuweisen, wurde behauptet, zu häufige Geburten seien für Mütter und Kinder gefährlich. Das aber widersprach dem traditionellen Wissen der moslemischen Bevölkerung. Zu Recht oder Unrecht wurden daher rassistische Motive vermutet. Denn schließlich kamen gleichzeitig aus den baltischen Ländern Alarmrufe wegen sinkender Geburtenraten.

Den wahren Grund für Müttersterblichkeit, Kindersterblichkeit und Behinderungen sahen die unabhängigen Geister in vergiftetem Wasser, unzureichender Ernährung, miserabler Abwasserentsorgung und fehlender medizinischer Betreuung. Einige Vertreter von Birlik argumentierten sogar noch schärfer. Der Schriftsteller Timur Pulatov sah in der steigenden Geburtenrate die Manifestation eines Volkes, das sich gegen Ausrottung wehrt. Der Dichter Muhammad Salih verwies darauf, daß Usbekistan bei verbesserten Strukturen noch sehr viel mehr Menschen aufnehmen könne, als die bisherigen 20 Millionen. Japan, das nur halb so groß sei und dem die natürlichen Ressourcen Usbekistans fehlten, ernähre schließlich auch 120 Millionen Menschen.

Das Sinken der Weltmarktpreise schlug sich bei den Usbeken als Einkommensverluste nieder. 175 Rubel bringt der durchschnittliche Usbeke monatlich nach Hause, 217 Rubel sind es in der Union, in der Russischen Föderativen Sowjetrepbulik (RFSR) 233 Rubel, in den baltischen Staaten noch mehr. Der durchschnittliche usbekische Kolchosnik verdient sogar nur 139 Rubel, der russische 198. Von diesem Einkommen leben überdies mehr Personen als im sowjetischen Durchschnitt, da die Familien größer sind.

Erfahrungen mit Diskriminierung verwandelt die materielle Lage in nationalen Sprengstoff. Während die einheimische Bevölkerung im Baltikum auf die eingewanderten Slawen herabsieht, sind die Usbeken selbst Objekt sozialer Verachtung. Die Verbitterung richtet sich aber auch gegen die von Stalin strafweise umgesiedelten Minoritäten - vor allem Krimtataren, Deutsche, Koreaner und Mescheten. Sie sind in der Regel unternehmungslustiger und erfolgreicher als die Einheimischen. Bei entwurzelten Sozialgruppen, die aus ihrer Misere herauskommen wollen, ist das kein Wunder, aber es ruft Ressentiments hervor, die verstärkt werden durch selektive Arbeitslosigkeit.

Hinwendung zum Islam

Die von den Bildungsschichten getragenen Bewegungen sind mit diesem Fremdenhaß nicht gleichzusetzen. Sie könnten sich jedoch mit ihnen irgendwann kurzschließen. Immer schon hat es eine islamische Selbstidentifikation gegen den „christlichen“ Rest der Sowjetunion gegeben. Die Unterdrückung unter sowjetischen Vorzeichen führte zur Herausbildung eines „parallelen Islam“, der unter der Landbevölkerung großen Rückhalt hat. Aber selbst Parteimitglieder definierten ihre Besonderheit über das islamische Erbe.

Nun wenden sich mehr und mehr auch Ärzte, Ingenieure und sonstige Spezialisten der Religion zu. Ein Ausdruck davon ist die Renaissance der arabischen Schrift. Der usbekische Linguist Habibullah Salih wird für seine Kurse in arabischer Schrift und Kalligraphie und alter usbekischer Grammatik sogar von der usbekischen Sektion des Kulturfonds der UdSSR gefördert.

Einen ersten politischen Erfolg erzielten die informell organisierten Moslems, als sie den Rücktritt des Muftis für Zentralasien, Babachan, erzwangen. Sie warfen ihm vor, die Perestroika nicht für die Rechte der Gläubigen genutzt und sich zu wenig um die Öffnung neuer Moscheen gekümmert zu haben. Seit 1943 war es seine Familie, die die Muftis gestellt hatte und somit die sowjetische Haltung gegenüber dem Islam zum Ausdruck brachte. Babachans Sturz wurde zum Symbol.

Träger der intellektuellen Wiederbelebung des Islam ist vor allem die Gruppe „Islam und Demokratie“, die ganz Mittelasien erfaßt. Ihr Zentrum ist Alma Ata, die Hauptstadt Kasachstans. Dieser Gruppe zufolge zielt der Islam auf eine Vereinigung von Religion und Staat in einer demokratischen Form der Volksmacht. Das klassische Werk der demokratischen Erneuerung ist damit der Koran.

Dieser fundamentalistischen Tendenz stehen Bemühungen gegenüber, die europäischen Formen des Nationalismus aufnehmen: Sprache, goldene Vergangenheit und nationale Wiedergeburt.

Die Plünderung der Geschichte geht allerdings wie üblich nicht ohne kulturelle Grenzstreitigkeiten ab. So beklagen bereits persisch-sprachige tadschikische Intellektuelle die nationalistische Arroganz ihrer usbekischen Kollegen. Die nämlich reklamieren den großen Avicenna (Ibn Sina) für sich, weil er im heute usbekischen Buchara geboren ist. Avicenna lebte zwar in einer Zeit, als türkische Elemente gegenüber den persischen zu dominieren begannen, aber er schrieb in seiner Muttersprache - persisch und arabisch. Nationalheld ist ferner Babur, der in Indien das Mogul-Reich gründete. Dem rumänischen Daker-Mythos endlich nähert sich der Ruhm der Tomaris, nach Herodot Königin der Massageten in Zentralasien, die gegen die persischen Invasoren kämpfte. Der „Vater der usbekischen Literatur“ schließlich, der Dichter Alischer Nawoi, kommt zwar aus dem heutigen Afghanistan, aber er schrieb tatsächlich usbekisch. Die Zentrale ist bei all diesen Entwicklungen ratlos. Der Moskauer Forderung, mehr Obst und Gemüse anzubauen und mehr Fleisch zu produzieren, steht keine Bereitschaft gegenüber, die Planziffern für Baumwolle drastisch zu senken. Damit bleibt auch eine wesentliche Quelle der Korruption unangetastet. Die ökologische Katastrophe wird ausgesessen, bis alles noch schlimmer wird. Der Nationalismus nach europäischem Muster ist zwar inzwischen vertraut. Gegenüber dem Islam aber gibt es nur Verlegenheit. Gorbatschow selbst, der in religiösen Angelegenheiten sonst eine tolerantere Linie vertritt, schlägt beim Islam die alten harten Töne an und fordert eine Zurückdrängung. Denn anders als für Christen ist für wirkliche Moslems jede Trennung von Staat und Religion häretisch.