Jewtuschenko - Poet der Perestroika

■ Peter Schütt, einer der ehemals begeisterten Hausdichter der DKP, beobachtete Jewgenij Jewtuschenko bei seinem Auftritt in Hamburg

In der „Fabrik“, Hamburgs proletarisch-schickem Kommunikationszentrum, trat in diesen Tagen ein ungewöhnlicher Kommunikator auf die Bühne. Dort, wo sonst vor allem phonstarke Rockbands die Fabrikwände wackeln lassen, bewies ein Meister des Wortes, daß er auch ohne große Soundtechnik in der Lage ist, einen vollen Saal über Stunden in seinen Bann zu ziehen. Zu Gast war der sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko, seit neuestem Vizepräsident des eben gegründeten sowjetischen Pen-Zentrums und Abgeordneter des frisch gewählten Kongresses der Volksdeputierten. Es war übrigens der zweite Besuch des poetischen Superstars in Hamburg. 1965 hatte er auf seiner zweiten berühmten Weltreise in der Hansestadt Station gemacht, hatte hitzig und heftig mit Studenten diskutiert und war hinterher über die Reeperbahn gebummelt. Das Gedicht Panoptikum auf St.Pauli bewahrt die Erinnerung an die damaligen Eindrücke auf.

Jewtuschenko hält sich nicht mit langen Vorreden auf, er geht gleich in die vollen und trägt mit einem für deutsche Zuhörer immer noch fremden Pathos, mit demonstrativen Gesten und geradezu theatralischen Gebärden einige seiner Verse vor, zum Teil noch unveröffentlichte Liebesgedichte. Er rezitiert seine Gedichte auswendig im russischen Original, anschließend liest der Schauspieler Klaus-Maria Brandauer er ist seit vielen Jahren mit Jewtuschenko befreundet - die deutsche Übersetzung. Im Gegensatz zum Autor verzichtet er dabei auf jede Gebärdensprache und verläßt sich ganz auf die Aussagekraft des Wortes: ein west-östlicher Gegensatz, der für Spannung und Abwechslung sorgt und die Zuhörer immer von neuem überrascht und verwundert.

Nach leiseren Versen, die vom „Fremdsein derer, die sich nahe fühlen“, sprechen, geht Jewtuschenko unvermittelt über zur großen Politik. Er trägt das Gedicht Babij Jar vor zum Gedenken an die 17.000 Juden, die von den Nazis in der Schlucht bei Kiew ermordet wurden - und berichtet von der langanhaltenden Wirkung seiner Verse. Schostakowitsch hat sie vertont, das Denkmal, nach dem das Gedicht gerufen hat, wurde endlich gebaut, aber der Dichter wurde Opfer des Antisemitismus. Er wurde als „Jidd“ beschimpft, als „Judenknecht“ und CIA-Agent, und sieht sich bis heute den Angriffen großrussischer Chauvinisten ausgesetzt vor allem aus der rechten Ecke der „Pamjat„-Bewegung. Das Gedicht Russische Panzer in Prag ist der nächste „Stein des Anstoßes“, den Jewtuschenko ins bewegte Publikum schleudert. Es wurde am 23.August 1968 geschrieben, zwei Tage nach dem Einmarsch der Warschauerpakttruppen in die Tschechoslowakei, einen Tag nach Jewtuschenkos spektakulären Protesttelegrammen an Breschnew. Der Dichter erzählt die Wirkungsgeschichte seiner Prager Verse. Mehr als ein Jahr waren ihm alle öffentlichen Auftritte und Auslandsreisen verboten, der Verkauf seiner Bücher war für mehrere Jahre unterbunden. Das Gedicht zog dennoch seine Kreise, wurde auswendig gelernt, abgeschrieben und über Samisdat verbreitet, bis es im letzten Jahr zum ersten Mal offiziell gedruckt wurde, zusammen mit dem ebenso skandalverdächtigen Gedicht Die afghanische Ameise, das Jewtuschenko 1981 zum Gedenken an die in Afghanistan gefallenen Sowjetsoldaten verfaßt hat. Auch diese Verse wurden verboten und taten dennoch ihre Wirkung. Sowjetische Armeeangehörige vertonten den Text und sangen das Lied zur Erinnerung an ihre sinnlos gestorbenen Kameraden.

Der Poet und Pionier der Perestroika endet seinen Hamburger Rezitationsabend mit dem Gedicht Grenzen, einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum neuen Denken, zur Politik der Offenheit und zur Abschaffung alter Feindbilder. Auch die deutsch-deutsche Grenze bleibt darin nicht ungeschoren. „...vielleicht denkt auch die Berliner Mauer: Wieviel schöner wäre ich - zerlegt! Wieviel lieber wäre ich umgebaut in ein Karussell oder einen Kindergarten!“ In der anschließenden Diskussion machte er keinen Hehl daraus, daß diese Aussagen nicht bloß symbolisch gemeint sind. „Alle Grenzen, alle Mauern sind“, sagt er mit einem unmißverständlichen deutschen Wort, „Scheiße“ und sie werden fallen. „Auch die Grenze zwischen Kapitalismus und Sozialismus?“ wird er gefragt. „Auch die wird eines Tages verschwinden, sie wird sich einfach verflüchtigen.“ „Und welche Grenzen bleiben übrig?“ „Am Ende“, meint Jewtuschenko, „bleibt nur ein Trennungsstrich, und der geht durch jedes menschliche Herz. Ich meine die Grenze zwischen Gut und Böse.“ In dieser Vision beruft er sich ausdrücklich auf Heinrich Böll: „Der war vielleicht nicht mein Genosse, aber mein Bruder war er allemal, mein Bruder im Kampf gegen Rassismus, Chauvinismus und Militarismus. Wir haben uns beide mit der Bewältigung unserer Vergangenheit herumgeschlagen, Böll mit der Hinterlassenschaft von Hitler, ich mit dem Erbe Stalins in unserer Gesellschaft, in unserem Leben und Denken.“

Jewtuschenko bittet seine Hörer im Westen ausdrücklich um Solidarität mit dem Perestroika-Prozeß in der Sowjetunion. Er würdigt die Veränderungen, die vor allem im kulturellen und politischen Bereich in kurzer Zeit erreicht wurden: „Solschenizyns Archipel Gulag wird im kommenden Jahr in einer Startauflage von anderthalb Millionen erscheinen, Sacharow ist zum Deputierten des Volkskongresses gewählt worden, wir hatten die ersten richtigen Wahlen in der tausendjährigen Geschichte Rußlands. Das alles nenne ich eine Revolution.“ Die Schwierigkeiten lägen auf wirtschaftlichem Gebiet. „Wir haben eine vollkommen verkehrte und abstruse Einstellung zum Eigentum. Es gibt bei uns nur Staatseigentum, und das hat mit Volkseigentum so wenig zu tun wie Monopolbesitz. Wir brauchen dringend eine Vielfalt von Eigentumsformen, das Privateigentum eingeschlossen.“ Als wichtigste Aufgabe für die kommende Etappe der Perestroika nennt Jewtuschenko kurz und bündig und verweist dabei auf seine jüngste Rede vor dem Kongreß: „Das Monopol des Staates am Eigentum brechen - und das Monopol der Partei an der Politik.“ Ob das keine blanke Illusion sei, will ein Skeptiker wissen. Doch Jewtuschenko entgegnet knapp, beinahe apodiktisch: „Es gibt keine andere Wahl, wir müssen unser System von Grund auf ändern - oder untergehen. So weitermachen wie bisher, das wäre totsicher das rasche Ende des Sozialismus, bei uns und anderswo!“

Peter Schütt