PRIMA LEBEN UNTERM STIEFEL

Montagsexperten kommen zu Wort: Enno Bohlmann  ■ ÜBERLEBENSBÖRSE '89

Auch Eberhard Diepgen ist im Besitz einer gflissentlichen Halbbildung. Letzte Woche sah er sich genötigt, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR und Generalsekretär der SED ins Gewissen zu reden. Seine Ausführungen begann er mit folgender Fundstelle aus der Zitatensammlung: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire.“ Erinnern wir uns: Schiller, Don Carlos und irgendwie Freiheitskampf. Unverkennbar: Diepgen hat hoch angereizt. Nach dem nicht zu verwindenden Abgang aus dem Rathaus versucht er sich als elder statesman und streut hier und da an was auch immer gemahnende Worte, doch er kommt nicht über einen Provinz-Weizsäcker hinaus.

Man sieht den Schwarm aller Schwiegermütter regelrecht mit Federhut und wehendem Überwurf vor dem Tyrannen stehen. Marquis Eberhard von Diepgen umfaßt den Degen noch mal mit entschlossenem Griff, dann tritt er energisch einen Schritt auf den König zu, schaut ihm in die Augen, spricht „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ und wartet, daß der Tyrann, von diesen Worten in die Enge getrieben, endlich die Truhen öffnen möge, in der er die Gedankenfreiheit verwahrt. D'Artagnan ist nichts dagegen.

Dennoch kann man dem christdemokratischen Hobbyregisseur inszenierunsmäßig einen großen Vorwurf nicht ersparen. Der Forderung nach Gedankenfreiheit folgt eine eindeutige Schillersche Anweisung: „sich ihm zu Füßen werfen“. Hat man davon etwas gesehen oder gehört? Nein, hat man nicht. Alles in allem eine schlampige Inszenierung, die mit billigem Pathos arbeitet, was sich aber gerechterweise am verhinderten Ostblockretter rächen wird. Nicht ohne Häme bleibt nämlich festzustellen, daß der Marquis von Posa (die von Diepgen angemaßte Rolle) im Laufe des Dramas sterben muß, weil er sich zur Realisierung seiner Freiheitsideen der Methoden des alten Tyrannenstaates bedient. Geschundene Zitate aus der Welt der Halbbildung schlagen eben immer feste zurück.

„Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire.“ Wenn man bedenkt, was die Gedankenfreiheit so alles bei Eberhard Diepgen angerichtet hat, möchte man fast für einen Verschluß plädieren.