MANN MIT HAAR

■ Daniel Viglietti im „Haus der Kulturen der Welt“

Wenn ich mit meinem Lied jemanden hier belästige, dann könnt ihr sicher sein, daß es ein Gringo oder ein Landbesitzer von Uruguay ist - reißt die Stacheldrahtzäune ein.“ Als Daniel Viglietti diese Zeilen seines Liedes A desalambrar im Canal 5 des uruguayischen Fernsehens sang, hörte längst niemand mehr zu - außer den Technikern im Studio, die nach Ende des Vortrags heftig applaudierten. Man schrieb das Jahr 1968, und Uruguay war auf der letzten Etappe seines fatalen Weges zur Militärdiktatur. Vigliettis unverblümte Aufforderung zur Landbesetzung belästigte die Machthaber ganz gehörig, und sie hatten dafür gesorgt, daß das Programm unterbrochen wurde, als die ersten Gitarrenakkorde erklangen. Musik war damals eine Waffe, und als die Militärs die Macht übernahmen, gingen sie sogleich daran, die sanften, aber kämpferischen Töne, die von Revolution und einer neuen Zeit kündeten, zum Verstummen zu bringen.

Auch Viglietti, der auf den Straßen und Plätzen Montevideos seine Lieder sang, wurde verhaftet; eine internationale Solidaritätskampagne mit Jean-Paul Sartre an der Spitze erreichte jedoch seine Freilassung. Der Sänger ging ins französische Exil, nach dem Ende der Diktatur kehrte er 1984 zurück in seine Heimat, bei seinem ersten Konzert in Montevideo von 30.000 Menschen frenetisch bejubelt.

Die Zeiten haben sich geändert seit 1968, und Vigliettis Lieder sind mit seinen Haaren ergraut. Die heutigen Machthaber in Uruguay lassen sich mit Musik nur schwer erschrecken, und das Repertoire des Mannes „mit dem Haar im Gesicht“ ist eindeutig poetischer geworden. Die „Lieder der erhobenen Faust“, wie er sie nennt, sind etwas in den Hintergrund gerückt, der Kampf gegen den Stacheldraht auf den Feldern hat dem Kampf gegen den Stacheldraht in den Köpfen ein wenig Platz gemacht. Die Texte sprechen vom Leben der Bauern im Landesinnern Uruguays, von Liebe und von Sehnsucht. Das legendäre A desalambrar war bei seinem Konzert im „Haus der Kulturen der Welt“ sogar ganz aus dem Programm entschwunden.

Ansonsten aber ist Viglietti, äußerlich wirkend wie ein versehentlich auf die andere Seite des Rio de la Plata geratener Zwillingsbruder des argentinischen Fußballtrainers Cesar Luis Menotti, derselbe geblieben. Immer noch rutschen ihm ständig die langen Haarsträhnen ins Gesicht, seine Gitarre spielt er mit der alten Meisterschaft, voller Poesie und Humor seine Kommentare und Geschichten zu den einzelnen Stücken, und warm wie eh und je seine Stimme.

Aber schwer hatte er es doch mit der jungen Generation. Einige relativ neugeborene Mitglieder des Publikums nörgelten ausdauernd und ungeniert in die wohlgesetzten Gitarrenklänge hinein und waren nur in der Pause für eine Weile still. Und daß die wohlgemeintesten Lieder manchmal genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich beabsichtigen, wurde Daniel Viglietti an diesem Abend ebenfalls drastisch vor Augen geführt. Ausgerechnet, als er ein Wiegenlied sang, erreichte der Lärm in der frühkindlichen Abteilung des Auditoriums seinen Höhepunkt.

Matti Lieske