Leipzig: Wut, Ironie und Angst

■ Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei/7.000 auf der Straße/Die Stimme des Volkes wird öffentlich

Dunkel, Nässe, Polizeiketten, schreckhafte Massen von Menschen. Ein einzelner Polizeikradfahrer. Fünf Jugendliche machen einen Ansatz, ihn zu überfallen: „Was, du bist alleene, du Schwein.“ Die „Schweine“, „die haben nur noch Angst“, „die wollen ihr China“ - Worte, im Vorbeigehen aufgeschnappt, von Kindern, von alten Frauen, von allen. Stadtgespräch, die Stadt im Gespräch. Geburtstag der Republik in Leipzig, acht Uhr abends.

Begonnen hatte es kurz vor Mittag. Die aktuelle Planung für die offizielle Jubiläumsfeier war nur noch tote Hose. Den FDJ-Umzug hatte man kurzfristig abgesagt. Vormittags versammeln sich die ersten Jugendlichen rund um die Nikolaikirche. Die Kirche bleibt wegen dem 7.Oktober geschlossen. Blumen in den Fenstern, Kerzen für die Inhaftierten. Die ersten Jugendlichen setzen sich hin, eine Art von Sit-in. Die Menge an der Nikolaikirche ist auf 500 Leute angeschwollen. Sprechchöre: „Happy Birthday!“ Die inzwischen aufgezogene Polizeikette trennt den Rest von den Sitzenden. Die werden festgenommen. Aufschrei, Sprechchöre: „Schämt euch! Schämt euch!“ Dazwischen das Gebell der Polizeihunde, die aber den Maulkorb behalten. Was so begonnen hat, setzt sich zehn Stunden lang fort, mit immer mehr Menschen. Nachmittags sind etwa 7.000 auf den Straßen und spielen gewaltlosen Widerstand mit der Polizei.

Es ist immer der gleiche Ablauf: Die Leute sammeln sich um die leere Kirche. Dann Polizeieinsatz. Die Leute werden in die Nebenstraßen oder in die Fußgängerzone, die Grimmaische Straße, abgedrängt. Sprechchöre, kleine Provokationen, Schlagstockeinsatz.

Nur einmal läuft es anders. Die Ostberliner Musikgruppe „Spielwut“ („Wir spielen und haben Wut“) hat zum späten Nachmittag hin ihren Platz unter den Arkaden des Alten Rathauses aufgegeben und zieht - in mittelalterlichen Gewändern und mit Instrumenten aus damaliger Zeit - vor die Polizeiketten. Ihr Umzug schwillt blitzschnell zu einer großen Demonstration an. Das ist der Augenblick, wo die Polizei sofort vorrückt und Kessel bildet. Gegen zehn Uhr abends wird an einer Informationsstelle Bilanz gezogen: etwa dreißig Festnahmen (ich selbst habe zwanzig gesehen), ein Schwerverletzter, viele mit kleineren Kopfwunden. Ein vierzehnjähriger Junge wurde festgenommen, dessen Mutter fassungslos gegen Polizeimauern anschrie, und ein SED -Funktionär, der zwischen Demonstranten und Polizei vermitteln wollte.

Sobald die Polizeiketten vorrücken, Sprechchöre mit schönem Doppelsinn: „Wir bleiben hier.“ Andere Sprüche: „Neues Forum zulassen!“, „Stasi raus!“ und - immer wieder - „Keine Gewalt!“. Dazwischen die Internationale. Weiteres von der Abendbilanz im Kommunikationszentrum: Wenig Stasi-Leute im Einsatz. Einzelne Greiftrupps. Viele Stasi-Kameras auf den Dächern. Wasserwerfer sind aufgefahren, kommen aber nicht zum Einsatz; Kampftruppen riegeln zwar den Bahnhof ab, erscheinen aber nicht in der Innenstadt. Von Warnschüssen in die Luft wird berichtet, die es auch am letzten Montag gegeben hat. Die Innenstadt wird übrigens jede Stunde einmal abgesperrt. Aber immer wieder sickern die Leute durch; schließlich sind die „Leipziger Markttage“, gibt es Wildschweinbraten vor dem Alten Rathaus und die „Frischobst“ -Stände mit einer Sonderzuteilung von Weintrauben.

Aber die Bilanzen, die Zahlen der Demonstranten und Festnahmen sagen wenig. Wichtiger die Stimmung von Wut und sächsischer Ironie, die die ganze Innenstadt erfaßt hat. Ein Vater marschiert mit seiner Familie direkt an die Polizeikette, guckt in die jungen Gesichter der Bereitschaftspolizisten und verkündet laut: „Also, die Republik hat Angst.“ Ein besoffener Penner, im DDR-Jargon Assi (Asozialer) genannt, grölt: „Ich bin voll, jetzt fehlt mir nur noch die Ausreise.“ - „Na, dich brauchen wir nicht für die Reform.“ - Je mehr die Polizei räumt, desto mehr kommen. Die Stände am Markt lehren sich. Nach jedem Einsatz strömen die Leute zurück. Sie fliehen mit Kleinkindern, Stiegen frisch erstandener Weintrauben und mischen sich sofort wieder ein. Sie verharren, in Staffelungen der Angst. Es ist eine gemeinsame Übung, die Angst abzubauen. Eine Frau, die mich begleitet, begrüßt laufend Kolleginnen mit ihren Kinder. „Am Montag (dem inzwischen traditionellen Treff vor der Nikolaikirche) gehen wir wieder hin.“ „Darüber hätten wir gestern im Betrieb noch nicht reden können. Jetzt geht es.“ Ein Innenstadtlokal im Souterrain. Die Kellnerinnen bedienen nicht, sondern schimpfen laut an der Theke: „Jetzt hamse die ganze Innenstadt abgesperrt. Wie soll ich meine Tochter holen? Ich mache heute nischts mehr.“ Zwei Verkäuferinnen an einem Stand reden auf eine dritte ein: „Also, am Montag mußt du hin (zur Nikolaikirche), wenn du jetzt nischts machst, wann willste denn was machen?“ Eine Frau - sie hat vor einem Jahr den Job geschmissen („Ich hab‘ zwanzig Jahre den Sozialismus gelehrt, jetzt siehste, was da rausgekommen ist!“) - will auch am Montag hin: „Bevor ich vierzig werde, will ich mit meinem Leben noch etwas anfangen.“ Der Auslöser für sie: „Jetzt, wo die nicht weiterwissen, kommen sie uns mit Hunden.“

Viele Diskussionsgruppen mit Bereitschaftspolizisten. „Ihr könnt doch nicht sowas machen wie in China!“ „Wollt ihr euer China?“ Immer wieder. Aber auch: „Guckt doch mal in die Betriebe, da herrscht keine Einheit mehr.“ Informationen am Rande: Jeden Montag schließen die Geschäfte um die Nikolaikirche schon um 17 Uhr. Am Donnerstag sollen, nach vielen glaubhaften Informationen, Abteilungen von Krankenhäusern fürs Wochenende freigemacht worden sein. Ein Schlosser berichtet, daß aus Angst vor Unruhen alle Werkhallen in seinem Betrieb abgeschlossen wurden.

Die Akteure der oppositionellen Gruppen sind an diesem Tag nicht anwesend. Man hat sich entschlossen, nur Fotografen zu schicken. Den Dauerwiderstand in der Innenstadt betrachten sie eher mit gemischten Gefühlen. Sie finden, er sei unpolitisch - mit ähnlichen Argumenten, mit denen seinerzeit die SDS-Strategen die „Wasserspiele“ auf dem Kudamm ablehnten. Außerdem befürchten sie, daß das nur das Vorspiel für Straßenschlachten am Montag abend sei. Der hier wiedergegebene Appell, das erste gemeinsame Dokument der oppositionellen Gruppen in Leipzig, gibt Stimmung exakt wieder. Ihr Problem: die Massendimension selbst. Die Organisation brauche Zeit, aber die Zeit laufe davon. Niemand könne die Demonstrationen organisieren. Es gebe keine Identifikationsfiguren, niemanden, der eine Rede halten könne, ganz abgesehen davon, daß in Leipzig nicht ein einziges Megaphon vorhanden ist. Die Demonstranten müßten einen Schlußpunkt finden, auch um dem Politbüro einen Ausweg zu lassen. Wenn solche Auseinandersetzungen bis in die Nacht gehen, sei die Gefahr von nicht wiedergutzumachender Gewalttätigkeit viel zu groß. Alles komme auf die Selbstorganisation der Arbeiter an. Die Streikbereitschaft sei groß. Inzwischen würden ganze Belegschaften am Montag abend nach Leipzig kommen. Aber der Einigungsprozeß der oppositionelle Gruppen brauche noch etwa zwei Monate. Das wichtigste sei jetzt, daß gegenüber der SED auch ein kompetenter Ansprechpartner entsteht, der Programme vorlegen könne. Die Chance für einen Dialog sei da, denn auf der unteren Parteiebene gebe es weitgehende Kontakte. Aus diesem Tenor heraus eine doch überraschend vielstimmige Kritik am Neuen Forum. Es sei vorgeprescht und könne keinerlei Organisationselemente anbieten, keine Treffpunkte, nichts. Wenn die Leute es schaffen würden, eine Adresse zu finden, wo sie den Aufruf unterschreiben, was dann? Man wisse, daß in der Humboldt-Universität die Stasi selbst mit Unterschriftenlisten rumgegangen sei, um die Leute herauszupicken - das eben sei die Gefahr mangelnder Organisation. Das Neue Forum sei ein „Hohlkörper“.

Nachts, vor der Nikolaikirche Ruhe. Die Polizei jagt inzwischen die Massen um den Bahnhof rum. Eine kleine Gruppe diskutiert. Ein junger Arbeiter („ich bin hier, weil ich meine eigene freie Meinung vertrete“) schimpft auf einen anderen (besoffenen) Arbeiter. Der hatte gesagt, er sei als „Mitläufer“ gekommen. „Wenn du keine Meinung hast, wenn du hier nichts ändern willst, wer bist du dann? Dir fehlt eine Gehirnwindung!“ Der Angegriffene sagt, er sei „keen Kommunist“. „Das ist doch keine Meinung“, ob er von der Stasi sei? Aber egal, er habe nichts zu verlieren, als Arbeiter. Und das Neue Forum? „Noch heute würde ich eintreten, aber wo isses, das Neue Forum?“

Wolfgang Dore