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SOLCHE UND SOLCHE BRIEFMARKEN

■ Gefangener muß Briefmarken kaufen, obwohl er welche besitzt

Merkblatt über die Rechte und Pflichten der Untersuchungsgefangenen vom 15. Oktober 1971 (Auszüge): Punkt 5.2: Der Gefangene darf ohne Einhaltungen von Zeitabständen Briefe schreiben und empfangen.

Punkt 5.4: Die Portokosten trägt der Gefangene.

Seit Ende Juni '89 bin ich hier in Stadelheim in U-Haft. Zur Zeit bekomme ich viel Post, unter anderem auch Rechnungen, die ich bis nach meiner Haftentlassung stunden lassen muß. Auch verfüge ich nur über ca. 70 Mark monatlich aus Bezahlung im Arbeitsbetrieb. Ich bat meine Eltern, mir mit Porto für die Briefe zu helfen um nicht meine „paar Mark“ Eigengeld benutzen zu müssen. Ich bekam von meinen Eltern einen Brief mit acht ein-DM-Briefmarken. Davon nahmen mir die JVA-Beamten sieben Stück ab und legten sie zu meinen Aservaten. Fand ich nichts dabei. Noch nicht. Aber jetzt kommt der Hammer.

Ich bekam sechs Rechnungen, und um die Antwortschreiben zu frankieren, erbat ich die restlichen sieben Marken. Mir wurde gesagt, daß jeder Brief nur eine Briefmarke Rückporto enthalten darf. Dieses ist im Justizvollzugsgesetz geregelt. Briefmarken sind ein offizielles Zahlungsmittel und somit verboten. Ich bekomme sie nach meiner Haftentlassung zurück. Wenn ich welche benötige, muß ich mir beim Regeleinkauf welche bestellen. Darauf bekam ich zehn Stück ausgehändigt. Jetzt scheinen sie kein offizielles Zahlungsmittel mehr zu sein. Komisch oder? Die Briefmarke im Wandel.

In einem Brief an das Justizministerium unterstellte ich der Justiz, durch solche Maßnahmen den Schriftverkehr beeinträchtigen zu wollen. Jeder Gefangene kann sich überlegen, ob er sein Geld für Kaffee, Tabak, Zucker oder Süßigkeiten ausgibt oder Porto für Briefmarken kauft. Da auch mir Nahrungs- und Genußmittel ein kleines Stück Freiheit bedeuten, versuche ich so wenig Briefmarken zu kaufen wie nötig. Porto könnte ich mir ganz sparen. Meine Eltern würden mich versorgen. Ich muß in nächster Zeit ca. 20 Briefe schreiben, das geht ganz schön ins Geld. Wenn ich aber meine Eltern bitten würde, mir zwanzig Briefmarken in zwanzig Briefen zu schicken, würden sie mich für schwachsinnig halten.

Von meinen ca. 30 Mark, die ich noch hatte, hat mir die Anstalt noch zehn Mark für Briefmarken abgeknöpft. So muß ich auf Kaffee und Tabak verzichten, obwohl ich Briefmarken habe.

Ich habe in meinem Brief an das Justizministerium um eine Stellungnahme zu diesem Thema gebeten. Wie kann es sein, daß eine Briefmarke, die mit der Post kommt, ein verbotenes offizielles Zahlungsmittel ist, und Briefmarken, die ich hier kaufe, nicht? Warum werden Briefmarken, die ich von meinen Eltern bekomme, nicht ausgehändigt, sondern werde ich gezwungen, mir hier welche zu kaufen?

Daß die Gesetze von Schwachsinnigen gemacht wurden, kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube eher, daß wie schon gesagt, der Briefkontakt mit der Außenwelt beeinträchtigt werden soll. Wenn jeder so viel Briefporto bekommen könnte, wie er bräuchte, könnte auch jeder für sein ganzes Geld einkaufen. So muß man überlegen: einmal Tabak und Blättchen oder vier Briefe. Wie oft habe ich mich schon für Tabak entschlossen.

Manchmal tut es sehr weh, so schickaniert zu werden.

Achim R., JVA Stadelheim

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