Ein diskreter Widerschein

■ Mozarts „Titus“ in Zürich mit Harnoncourt und John Dew

Das Orchester ist angehoben: Emporgeholt aus dem Graben, in dem es für gewöhnlich kocht und köchelt, auf das Niveau der Bürger und Banker im Parkett. Sein Klang wird dadurch direkter, transparenter, zupackender, greifbarer, angreifbarer.

Nikolaus Harnoncourt dirigiert. Genauer gesagt: Er waltet mit Umsicht und kleinen Handbewegungen seines Amtes als Vorsänger. Die Sänger auf der Bühne unterstützt das sehr. Auch das Orchester, nicht gerade eines der besten, rafft sich dadurch zur Kantabilität auf, verdeutlicht die Rhetorik der Mozartschen Musik. Bei manchem Allegro allerdings, bei Verzierungen und den - wenn von Mozart auch sparsam dosierten - orchestervirtuosen Momenten macht sich dann aber doch bemerkbar, daß Harnoncourt nicht Dirigent im modernen, perfektionistischen Sinn ist. Präzise und glatt wird es nie. Harnoncourt weist zurück auf frühere Musizierpraxis. Das bedeutet Einbußen gegenüber den fortentwickelten Klangidealen. Aber es führt dazu, daß Wolfgang Amadeus Mozarts späte opera seria überhaupt wieder als lebendiges Werk gehört werden kann.

Als Yehudi Menuhin La clemenza di Tito vor einigen Jahren an der Bonner Oper dirigierte, da war das ein bloßer musealer Akt (im doppelten Sinn); auch andere Aufführungen vermochten das Interesse an der Ernsten Oper von 1791 nicht wieder zu erwecken. Doch Harnoncourt versteht es, die Stimmen aus dem fernen Kunstitalien wirklich zum Publikum sprechen zu lassen. Drei Stunden lang verstummen die fast schon obligaten Herbsthuster: Man glaubt, eine Stecknadel im Zuschauerraum fallen zu hören. Belebt ist der Tonsatz durch die fast überdeutlich ausgespielte Dynamik und eine Differenzierung der Nuancen, die allen Nivellierungstendenzen strikt entgegenwirkt.

Nikolaus Harnoncourt hat seinen Züricher Mozart-Zyklus mit dem - inzwischen verstorbenen - Erfolgsregisseur Jean-Pierre Ponelle begonnen und weit fortgetrieben. Eine einheitliche Regiekonzeption für alle Mozart-Opern war also nicht mehr erzielbar; die Züricher Opern-AG entschloß sich dankenswerterweise dann nicht zur Vollendung des Torsos durch einen Ponnelle-Adepten, sondern beauftragte den für seine entschieden moderneren Regiekonzepte bekannten und wegen seiner Fähigkeit zu kritischen Brechungen berüchtigten Regisseur John Dew mit dem Finale: dem Titus, der in der Wertschätzung des Publikums seit einigen Jahren erheblich gestiegen ist.

John Dew und der Bühnenbildner Gottfried Pilz boten ein einziges Bild an für das Treiben im alten Rom, das Mozart in Musik gesetzt hat. Die Sphäre des Kaisers Titus erscheint als postmoderne Machtzentrale. In Marmorglanz, auf dunklen Granitstelen, prangen zwei Dutzend Senatoren- und Cäsarenköpfe - erborgte Aura der Historie; davor eine Polstergarnitur nach der neuesten italienischen Mode. In dem monumentalen, nach hinten sich verjüngenden Raum wird präzises Spiel der Gesten und Mienen gezeigt. John Dew hat sich, in Respekt vor dem historischen Stilwillen Harnoncourts, dem Unternehmen ohne alles Auftrumpfen der Regie beigeordnet. Er vermied es, eine neue Geschichte auf alte Reime zu erzählen. Die Verhandlung des Verhältnisses von Liebe und Macht durch die Oper sollte zeitlos erscheinen. Sogar auf die theatralische Aufbereitung des brennenden Roms wurde verzichtet: nur ein diskreter Widerschein zeigte sich am Bühnenhimmel.

Die Sänger gewannen die Protagonistenrollen zurück: David Rendall führt als lässig machtbewußter Alleinherrscher eine brillante Tenorstimme ins Feld. Matti Salminens Gestalt und sein profunder Baß eignen sich bestens für einen Geheimdienstchef. Die anschaulichste Klangrede aber entwickelt sich, wenn die Klarinette vorwärts schreitet, wieder zu einem rhetorischen Doppelschlag ausholt und sich zwischen die Hoffnungen und Ängste der Soprane schiebt. Roberta Alexander - vorzüglich als intrigante Kaisertochter Vitellia: wie sie gurrt und schmeichelt, überredet und beschwört, sich anbietet und verweigert, das ist bestes Musiktheater. Überragend aber ist die Modulationsfähigkeit der Stimme von Ann Murray - explosiv im Piano und vollendet schön noch bei den großen Anstrengungen. Mozarts Musik, aus Harnoncourts Händen fließend, triumphiert noch einmal in Zürich.

Frieder Reininghaus