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Die Kirche als Vermittlerin

Kurt Hager, Chefideologe der SED, erhebt für seine Partei nicht nur den Anspruch, den Dialog erfunden zu haben, er kennt auch schon seine Gesprächspartner für die kommende Zeit: die „befreundeten Parteien“, die Massenorganisationen und - die Kirche. Dabei ist es nur wenige Wochen her, daß die SED der evangelischen Kirche noch publizistische Schelte für deren Erneuerungswünsche erteilte. Konkrete Reformforderungen der Synode des DDR-Kirchenbundes lösten im September heftige Polemiken in den staatlich gelenkten Medien aus.

Laut nachgedacht hatte die Synode über das Machtmonopol der SED. Sie forderte demokratische Parteienvielfalt und formulierte, es gehe um eine Gesellschaft, die „sozial gerecht und demokratisch“, die „nach innen und nach außen friedensfähig und ökologisch verträglich“ sei. Dazu brauche man vor allem den offenen und gesamtgesellschaftlichen Dialog.

Derlei Forderungen wehrte die SED bis vor wenigen Tagen noch als Einmischung in staatliche Angelegenheiten ab. Jetzt plötzlich steht die gescholtene Kirche als Gesprächspartnerin hoch im Kurs. Kaum nun hat das SED -Politbüro seine Erklärung mit dem Angebot: „Wir stellen uns der Diskussion“, abgegeben, da beginnen schon Überlegungen von kirchlichen Basisgruppen, Synoden und Kirchenleitungen Einzug in die veröffentlichte Meinung zu halten.

Die bislang angepaßte Tageszeitung der DDR-CDU, die 'Neue Zeit‘, druckte am Freitag ein ungewöhnlich offenes Interview mit dem Ostberliner Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe, der für „echte Wahlen“ eintrat und für den der Reisepaß für alle Bürger mittelfristiges Ziel ist. Er forderte das öffentliche Gespräch und ermutigte zur „angstfrei ausgeübten Meinungsfreiheit“.

Uneingeschränkt und ohne persönliche Konsequenzen befürchten zu müssen, konnten DDR-Bürger bislang nur in kirchlichen Räumen diskutieren und streiten. Nicht selten sah sich die Kirche in den vergangenen Jahren in die Rolle gedrängt, die Anliegen der Basisgruppen in die Öffentlichkeit zu transportieren, um das gesellschaftliche Defizit an Offenheit auszugleichen.

Bis zum heutigen Tag übernimmt die Kirche auch ganz praktisch eine Stellvertreterrolle, wenn sich der Staat in ausweglose Situationen manövriert hat und ihn der Gesichtsverlust nach innen und außen unberechenbar und gefährlich macht.

Schon einmal, im Februar 1982, öffnete die Kirche unter dem Druck der Ereignisse in Dresden ihre Türen, um friedensbewegte und kerzentragende Jugendliche vor der Konfrontation mit der Polizei zu bewahren. Ein anderes spektakuläres Beispiel ist die Vermittlerrolle nach den Verhaftungen und anschließenden Verurteilungen im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988. Ziel der Kirche war es dabei immer, bedrängten Menschen zu helfen, die Fälle individuell zu lösen und die Gesellschaft vor Überreaktionen der SED zu bewahren. Selbst Bischöfe haben in diesem Zusammenhang für die Kirche den Begriff der „Schutzmantelmadonna“ gebraucht. In Kauf genommen wurde dabei der Vorwurf der „Geheimdiplomatie“. Tatsächlich war und ist die Kirche in Krisensituationen ein Sicherheitsventil, um innergesellschaftlichen Druck abzulassen. Daß die SED mit dieser stabilisierenden Funktion der Kirche kalkulierte, begriff diese jedoch als kleineres Übel.

Auch in den vergangenen Tagen, nach den Massendemonstrationen in vielen Städten, bemühten sich Kirchenvertreter erfolgreich um Entspannung . Sie öffneten die Kirchentüren, um die Eskalation auf der Straße zu verhindern und die Menschen vor der tätlichen Staatsgewalt zu schützen. Und Kirchenleuten gelang es in Krisensitzungen auch, von staatlichen Vertretern die Zusicherung zur Freilassung Hunderter Inhaftierter zu erhalten. Die SED wird die Kirche weiterhin brauchen. Sie weiß, daß sich die Kirche in den Augen der Bürger nicht durch Machtmißbrauch oder opportunistisches Schweigen diskreditiert hat. Der Kriche andererseits stellt sich nun die komplizierte Aufgabe, den Forderungen eigener Synoden nach dem mündigen Bürger gerecht zu werden und die Vormundschaft für kritische Menschen abzulegen. Denn noch immer sind Oppositionsgruppen vom Dialog mit dem Staat ausgeschlossen. Nach wie vor müssen Versammlungen, die eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft wollen, unter dem Schutz der Kirche stattfinden.

Mündigkeit der Bürger aber beginnt erst dann, wenn die Kirche nur noch ein Dialogpartner neben den Reformgruppen wäre, die dann für sich selbst sprechen könnten; wenn die Kirche nicht länger Stellvertreterin sein müßte. Das schließt nicht aus, daß sie in einer Übergangszeit als Maklerin direkte Gespräche zwischen der SED und der Opposition vermittelt.

Matthias Hartmann

Der Autor ist Redakteur der Westberliner Zeitschrift 'Kirche im Sozialismus‘. Siehe auch Kommentar auf Seite 8

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