Gespräche mit Schönheitsfehler

■ Leipziger Neues Forum von Staat wie Kirche ausgegrenzt / Wie viele demonstrieren heute?

Wie viele Menschen werden heute nachmittag nach dem Friedensgebet in nunmehr fünf Leipziger Kirchen auf die Straße gehen? Partei- und Bezirksvertreter wollten die Demonstration verhindern, redeten erstmals mit der Kirche und verlangten vom Neuen Forum, öffentlich aufs Demonstrieren zu verzichten. Doch die vom begonnenen Dialog Ausgeschlossenen haben sich darauf nicht eingelassen. Nun weiß niemand, ob sich wieder 70.000, weniger oder gar mehr versammeln werden. Vieles deutet darauf hin, daß die Überzeugungskraft der vor Dialogworten überquellenden 'Leipziger Volkszeitung‘ nicht ausgereicht hat, die Aufbruchstimmung von der Straße wieder in die Wohnzimmer und Betriebe zurückzudrängen.

Wie berichtet, hatten während der Massendemonstration am letzten Montag unter anderem drei Bezirkssekretäre der SED öffentlich versprochen, „alles in unseren Kräften Stehende“ zu tun, damit der Meinungsaustausch in Leipzig in Gang kommt. Der Versuch des Neuen Forums, die Genossen beim Wort zu nehmen, scheiterte jedoch. Ein noch für letzte Woche in Aussicht gestellter SED-Brief erreichte die Gruppe nicht. Auch die sechs Unterzeichner des Dialogaufrufs - darunter der Chef des Leipziger Gewandhausorchesters - haben bisher auf die Bitte des Neuen Forums um einen Gesprächstermin nicht geantwortet. Statt dessen ereilte Forum-Sprecher Michael Arnold inoffiziell die Nachricht aus der Partei, daß „Bezirkssekretär Roland Wötzel nur mit uns redet, wenn wir öffentlich aufrufen, am Montag nicht zu demonstrieren“.

Die Jugendorganisation der Partei allerdings hat die vom Hauptquartier der SED ausgegebene Parole ignoriert, nicht mit Vertretern des Neuen Forums zu sprechen. Die FDJ wollte in einem Gespräch wissen, berichtet ein Teilnehmer, „wie wir zum Sozialismus stehen und welche Demokratie wir wollen“. Während der „ganz gut verlaufenen Diskussion“ bekräftigte das Neue Forum seine Forderungen nach Freilassung der Inhaftierten und Legalisierung der oppositionellen Gruppen. Man vereinbarte weder einen neuen Termin noch die vom Neuen Forum vorgeschlagene Podiumsdiskussion, weil die FDJ um eine „Denkpause“ bat.

Die Gespräche mit der Kirche führten nicht Vertreter der Partei sondern Funktionäre des Staates wie der Leipziger Oberbürgermeister. Unklar ist, ob dieser dabei explizit von seiner früheren Kritik am angeblichen „Mißbrauch“ der Kirchen für die Friedensgebete abrückte.

Den zweiten Anlauf zum „Dialog“ nahm am Freitag abend der stellvertretende Vorsitzende des Bezirksrates Leipzig, Hartmut Reitmann. Er setzte sich mit Kirchenrepräsentanten und kirchlichen Basisgruppen zusammen. „Das war eine Begegnung, bei der beide Seiten zu Wort gekommen sind, aber kein Dialog“, faßt Pfarrer Christoph Wonneberger seine Eindrücke zusammen. „Grundbedingungen“ habe Reitmann nicht gestellt. Demgegenüber verlangten die Basisgrüppler die Freilassung und Rehabilitierung der zum Teil seit Wochen in Leipzig Inhaftierten und eine „Symmetrie der Gesprächspartner“. Wonneberger: „Wir wollen nicht wieder als bloße Bittsteller behandelt werden, die andere Seite muß ihre Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen.“ Dazu übermittelten die Kirchenaktivisten eine Prioritätenliste, die sukzessive realisiert werden sollte: „1. Pressefreiheit, 2. Versammlungsfreiheit, 3. Vereinigungsfreiheit“.

„Bevor es unabhängige Zeitungen gibt, könnte man in der Stadt eine Anschlagtafel aufhängen“, sagte Wonneberger und kündigte weitere Konkretisierungen an. Über das Neue Forum sei im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit gesprochen worden, „aber nicht im einzelnen. Alle Gruppen müssen legalisiert werden. Prioritär ist für uns die Pressefreiheit.“ Ausdrücklich bestätigte aber der Pfarrer, daß die Kirche in Leipzig ihre Teilnahme an weiteren Gesprächen nicht von einer staatlichen Einladung an das Neue Forum abhängig macht. „Wir bestehen nicht darauf, daß das Neue Forum auch daran teilnimmt.“

Knud Rasmussen