Das Warten ist vorbei - erst mal

■ Die Wiederholung des Erdbebens von 1906 wurde San Francisco lange prophezeit - gestern bebte die Erde

Seit Jahren hatten die Kalifornier darauf gewartet, auf the big one, das große Beben. Am Dienstag nachmittag um 17.04 Uhr pazifischer Zeit, mitten in der Rush-hour, war es dann soweit. 15 Sekunden lang erschütterte ein heftiges Erdbeben der Stärke 7 auf der Richter-Skala die Bay Area, jene Region Nordkaliforniens, in der rund 3 Millionen Menschen leben. In der am östlichen Rand der Bucht liegenden Stadt Oakland brach ein 2 Kilometer langer Abschnitt der doppelstöckigen Stadtautobahn zusammen und begrub die zu dieser Zeit Stoßstange an Stoßstange fahrenden Fahrzeuge unter sich. Allein hier kamen über 200 Menschen ums Leben. Auf der San Francisco und Oakland verbindenen Bay Bridge stürzte ein 20 Meter langes Teilstück ein; und in der Nähe des Fischereihafens von San Francisco brach als Folge zerbrochener Gasleitungen ein Großfeuer aus. Mit einem Schlag war die Elektrizitätsversorgung der urbanen Metropole an der Golden Gate Bridge unterbrochen.

Es dauerte Stunden bis die sonst so schnellen Fernsehstationen Amerikas ihren Fernsehzuschauern ein Bild von der Erdbebenkatastrophe machen konnten. Während die Kalifornier, durch regelmäßige Katastrophenübungen auf den Fall aller Fälle vorbereitet, mit kühlem Kopf auf das Nachgeben des heimatlichen Bodens reagierten, herrschte in den Fernsehstationen an der Ostküste völliges Chaos. Wo die 60.000 Zuschauer im Baseballstadion von San Francisco während und nach dem Beben erstaunliche Disziplin zeigten, brachten es die bald auf den Bildschirmen der Nation erscheinenden Sportreporter fertig, die Absage des Baseballendspiels zu bedauern. Einen Abbruch der „World Series“, so einer der tumben Baseballkommentatoren, habe es selbst in den beiden Weltkriegen nicht gegeben.

Auch sonst gab es in den ersten Stunden nach der Katastrophe wiedersprüchliche Bilder aus der betroffenen Region. Im von Hispanics bewohnten Mission District sprangen die Kinder, ganz begeistert über soviel Aufregung, fast freudig auf der Straße herum, während nur wenige Kilometer entfernt Mitarbeiter der Sicherheitsdienste verzweifelt um das Leben von eingequetschten Autofahrern kämpften. Daß die für den bevorstehenden Raumflug der Spaceshuttle wichtige Beobachtungsstation in Kalifornien funktionstüchtig sei, wurde den Fernsehzuschauern umgehend mitgeteilt; wie die Situation in dem ebenfalls erschütterten Atomkraftwerk in Nordkalifornien aussah, blieb lange Zeit völlig im dunkeln. Auf jeden Fall sei „alles sicher“, wußte ein Kommentator aus Washington vorsichtshalber zu berichten. Statt dessen machten Nachrichten von angeblich schweren Plünderungen die Runde.

Rund drei Stunden nach dem Beben hatten die führenden TV -Networks die Sensation dann unter Kontrolle, um sie - wie immer von schreienden Autoverkäufern in den Werbespots unterbrochen - die ganze Nacht durch ans Publikum zu verfüttern: eine TV-Reporterin vor dem abgestürzten Teil der Bay Bridge, hinter der gerade ein kopfloses Opfer der Katastrophe auf der Bahre abtransportiert wird. Eine 96jährige Kalifornierin bringt den bildreichen Vergleich mit 1906, dem letzten großen Beben in San Francisco. Und der Korrespondent vor dem Weißen Haus gibt George Bushs denkwürdige Entscheidung bekannt, den geschockten Kaliforniern jetzt auch noch Vizepräsidenten Dan Quayle zur „Hilfe“ zu schicken.

Amerika erfährt ferner, daß es nicht allein vor dem Bildschirm sitzt. Auch die japanischen Fernsehstationen, die ihren baseballversessenen Zuschauern das Endspiel der „World Series“ über Satellit präsentieren wollten, haben die Erdbebenberichterstattung von ABC mitübernommen. So können die ebenfalls auf dem Rande sich reibender Erdplatten befindlichen Bewohner Tokios live mitansehen, wie Kalifornien mit der plötzlichen Erschütterung umgeht.

Während die Städte San Francisco, Oakland, Santa Cruz und San Jose an der Westküste noch stromlos im Dunkel liegen, wagen sich mit Anbruch des Tages in Washington, New York und Atlanta die ersten Seismologen und Erdbebenexperten in die Fernsehstudios. Etwas kleinlaut berichten sie, daß das Epizentrum des Bebens rund acht Kilometer nordöstlich von Santa Cruz und 60 Kilometer südlich von San Francisco gelegen hat. Die geschätzten 7 Grad auf der logarithmischen Richter-Skala entsprechen dabei der Stärke des jüngsten Erdbebens in Armenien. Die ungleich größere Wirkung, so ein Sprecher des „US-Geological Survey“ (Geologischer Dienst) erkläre sich aus der Tatsache, daß die armenischen Städte auf Sand und nicht erdbebengeprüft gebaut worden seien. Dennoch, auch in San Francisco wurde noch in der Nacht zum Mittwoch Kritik an den Bauvorschriften laut. Zwar haben die auf Federn gebauten Wolkenkratzer des Finanzzentrums das Beben wie vorgesehen fast schadlos überstanden; daß allerdings Verkehrsschlagadern der auf Stelzen gebauten Freeways so leicht zusammenbrachen, werde, so der sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in Frankfurt aufhaltende Gouverneur Kaliforniens, Gegenstand einer genauen Untersuchung sein.

Denn das große Beben, the big one, da waren sich alle Experten einig, war diese dramatische Verschiebung im Sankt -Andreas-Graben noch nicht. Für die Einwohner Kaliforniens wird mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte auch wieder das Warten darauf beginnen.

Zur Beruhigung all derer, die für einen Augenblick wirklich dachten, die Welt werde untergehen, mag noch der Hinweis eines Sprechers der Baseballiga dienen. Das dritte Spiel der Endspielserie zwischen den San Francisco Giants und den Oakland Athletics wird voraussichtlich im Stadium von Oakland stattfinden - sobald die Unversehrtheit der dortigen Stadionkonstruktion bestätigt ist.

Rolf Paasch, Washington