Der Flaneur und seine Geschichte

■ Eckhardt Köhns „Straßenrausch - Flanerie und kleine Form“

Nahezu die gesamte Literatur über den Flaneur, jenen einsamen Spaziergänger, der wie besessen die Straßen der modernen Metropolen durchstreift, steht unter dem Vorzeichen des Abschieds. Melancholisch blicken seine Historiographen auf eine goldene Zeit des Stadtspaziergangs zurück, in der die Metropole noch zum Straßenrausch eingeladen habe; auf eine Vergangenheit, in der das Biotop des sachte dahinschlendernden Flaneurs noch nicht durch den Zuwachs an Verkehr, die Geschichtslosigkeit der urbanen Architektur, die Unwirtlichkeit der modernen oder die Unwirklichkeit der postmodernen Städte zerstört worden sei. Solchen stets liebevoll und scharfsinnig erdachten Todesanzeigen widerspricht Eckhardt Köhn in seinem Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs; denn, so stellt er zu Recht fest, sie alle „suggerieren das Ende einer Geschichte, über die wir noch gar nicht verfügen“. Zwar bricht auch seine durchaus lückenhafte Geschichte im Jahr 1933 ab; doch gibt sie Anlaß zur Hoffnung, daß es mit dem Flanieren noch nicht ganz aus und vorbei sein könnte.

Etwa seit der Zeit, als die jüngere Germanistik sich Walter Benjamin zum Schutzheiligen erwählt hat, ist auch der Flaneur zu einer Kultfigur der Literaturhistoriker geworden. Bisher hatte sich diese Vorliebe nicht in größeren monographischen Veröffentlichungen niedergeschlagen. Erst 1988 erschien Rüdiger Severins Dissertation über Spuren des Flaneurs in deutschsprachiger Prosa, der man Köhns Buch zukünftig vorziehen wird, da es über die größere historische Tiefenschärfe verfügt. Zu erwähnen ist ferner ein Aufsatz von Dietmar Voss, der in dem ebenfalls 1988 von Klaus Scherpe herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Die Unwirklichkeit der Städte enthalten ist. Die Erfahrung des „Straßenrausches“, auf die der Titel von Köhns Buch verweist, führt Voss auf ein anthropologisch zu begründendes Bedürfnis nach ungeregelter Verausgabung und Verschmelzung mit der Umwelt zurück, das sich unter Bedingungen der Moderne exemplarisch im Flaneur verkörpert. Damit gibt Voss sehr viel tiefere Anregungen zum Verständnis der Rauscherfahrungen des Flaneurs als Köhn, auch wenn das ihm aufgebürdete Theorieprogramm seine historischen Konturen eher verwischt.

Köhns Verdienst liegt hingegen darin, die Geschichtsschreibung der Flanerie von der Fixierung auf den „Straßenrausch“ und auf die hochartifizielle Kunstprosa zu lösen. Köhn unterstreicht den Zusammenhang von Flanerie und „kleiner Form“, der Tradition des kurzen, vorwiegend in Zeitungen veröffentlichten, zwischen Beschreibung und Reflexion pendelnden Städtebildes. Die Entwicklung dieses von der Literaturhistorie bisher kaum beachteten, aber sehr verbreiteten Genres verläuft zwischen zwei Polen. Ein Pol wird durch den Erfinder des Genres markiert, durch Louis -Sebastien Mercier, der seit 1775 seine Tableaux de Paris in Zeitschriften veröffentlichte. Diese Bilder aus dem Pariser Alltagsleben registrieren detailliert die sozialen und moralischen Mißstände der Epoche, um die soziale Wahrnehmungsfähigkeit der Zeitgenossen zu schärfen und der Nachwelt ein authentisches, aus vielen Facetten zusammengesetztes Sittengemälde überliefern. Zu diesem Zweck durchstreift der Literat unermüdlich den Alltag der Metropole. Die kleinen Texte notieren schonungslos das Gesehene und ergänzen es durch kritische Reflexionen. Ein vergleichbares Nebeneinander von Beschreibung und Reflexion kennzeichnet eine ganze Strömung innerhalb des Genres, die sich bis in die Publizistik der Weimarer Republik verfolgen läßt und vom sozialen Engagement der flanierenden Literaten bestimmt wird.

Daneben zeigen sich schon im Paris des 19.Jahrhunderts starke Tendenzen zur Entpolitisierung und Trivialisierung des beliebten, kommerziell erfolgreichen Genres. Die Massenproduktion von Unterhaltungsliteratur für das Zeitungsfeuilleton bezeichnet den Gegenpol zu den soziologischen Expeditionen Merciers und seiner Nachfolger. Im ersten Kapitel von Köhns Buch, das eine differenzierte Sozialgeschichte des Pariser Flaneurs bis 1870 vorstellt, werden beide Entwicklungslinien durch die wechselnden Zeitverhältnisse hindurch verfolgt. Daneben entwickelt sich der Typus des Literaten, der das Flanieren als exklusive Kunst begreift und die Erfahrung der modernen Metropole in eine sublime ästhetische Struktur übersetzt. Der Gipfelpunkt dieser Entwicklung, auf die die akademische Forschung seit Benjamin sich konzentriert hatte, sind die Prosagedichte Baudelaires.

Ansätze zu einer Aufnahme der von Mercier begründeten Genretradition zeigen sich zuerst in den Parisbeschreibungen des Vormärz, bei Börne, Heine und Gutzkow. Mit dem Ausbau der Residenzstadt Berlin zur repräsentativen Hauptstadt und Industriestadt nach der Reichsgründung von 1871 entstehen die Voraussetzungen für einen Anschluß der deutschen an die französische Großstadtliteratur. Aber erst mit der Etablierung der Weimarer Republik, so Köhn, werde die Blockierung des Großstadtmotivs durch eine kulturkritische Ideologie der Großstadtfeindschaft aufgehoben. Anfang der zwanziger Jahre sei eine veränderte kollektive Identität entstanden, die eine neue Zuwendung zum Großstadtmotiv ermöglicht habe. Köhn stützt sich dabei vor allem auf Aussagen in den Schriften republikfreundlicher Autoren, die dazu neigten, das Berlin ihrer Beobachtungen und Wünsche für ein Symbol des Ganzen der Republik zu halten. Sie geben aber nur ein sehr verzerrtes Bild des sozialen und ideologischen Kräftefeldes der Weimarer Republik.

Wie schon im Kapitel über die Vorkriegszeit versäumt es Köhn, durch eine breiter angelegte Sichtung der publizistischen Landschaft der zwanziger Jahre eine größere Distanz zu den recht einseitigen Schwerpunktsetzungen der neueren Forschung zu gewinnen. Er konzentriert sich auf vier Autoren: Robert Walser, Frans Hessel, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer. Es überrascht, daß in dem gewaltigen Literaturverzeichnis nicht einmal Kurt Tucholsky und Egon Erwin Kisch oder so renommierte Zeitungen wie das 'Berliner Tageblatt‘ erscheinen, dessen Feuilleton eine Geschichte der „kleinen Form“ in den zwanziger Jahren nicht übersehen dürfte. Der Beitrag Joseph Roths zur Entwicklung der „kleinen Form“, das Zusammentreffen des Wiener Feuilletonismus der Jahrhundertwende mit der Stadterfahrung der Inflationsjahre, wird ebenfalls ignoriert. Es hätte dem methodisch an Benjamin geschulten und äußerst gewandten Autor doch auffallen müssen, daß man die Geschichte eines vergessenen Genres nicht allein auf der Basis des Materials schreiben kann, das die Überlieferungsgeschichte in Form von Buchpublikationen bereitstellt. Hier liegt, bei allem Respekt vor der gewaltigen Arbeitsleistung des Verfassers, eine Schwäche der Untersuchung. Sie kann die qualitativen Unterschiede in der Auseinandersetzung mit dem Sujet Großstadt vor und nach 1918 nur schematisch angeben, da sie sich auf allzu wenige Autoren, literarische Außenseiter zumal, konzentriert. Die Basis erweist sich zu schmal, sowohl im Hinblick auf eine noch ausstehede Geschichte der kleinen Form als auch auf eine Geschichte des flanierenden Literaten.

Aufgewogen wird dieser Mangel allerdings durch die Intensität, mit der Köhn das Werk der Autoren aufschließt, für die er sich entschieden hat. Das gilt vor allem für Franz Hessel, dessen Berlin- und Parisbilder zum ersten Mal auf überzeugende Art und Weise aus einem zugleich ideen- und lebensgeschichtlichen Zusammenhang heraus betrachtet werden. Ausführlich, aber nie langatmig zeichnet Köhn die Entwicklung vom Ästhetizismus des jungen Müßiggängers bis zur gelungenen Physognomik der Metropole Berlin am Ende der zwanziger Jahre nach. Eine solche Physiognomik, bei der die Impressionen des Flaneurs eine sinnvolle Erkenntnis der Großstadt gewährleisten sollen, findet sich auch in Benjamins und Kracauers Schriften, bereichert um eine materialistische Analyse der urbanen Welt. Köhn konzentriert den Blick auf die Poetik und konkrete literarische Gestaltung von Benjamins Prosaarbeiten und vermeidet es, sie wie andere Interpreten mit den theoretischen Äußerungen kurzzuschließen. Indem er zeigt, wie Benjamin in seinem ersten Prosabuch Einbahnstraße eine Straße aus Worten gestaltet, einen Raum für ein gleichsam flanierendes Denken, gewinnt der Schriftsteller Benjamin gegenüber dem Theoretiker deutlich schärfere Konturen.

Liegt der Schwerpunkt von Benjamins Werk auf der Rettung der utopischen Dimension vergangener Welten, so bei Kracauer auf der Gegenwart. Die Zuwendung zu einer als negativ, zerfallen, sinnentleert erfahrenen Wirklichkeit ist wie bei Benjamin theologisch motiviert. Als metaphysischer Flaneur durchstreift Kracauer seit Mitte der zwanziger Jahre die Großstadtstraßen, auf der Suche nach den Epiphanien einer gestalthaften, sinnerfüllten Wirklichkeit. Der Schwerpunkt seiner Physiognomik verlagert sich mehr und mehr auf die Entzifferung der tragenden Konstruktion der Gesellschaft hinter ihren Erscheinungen, ohne die metaphysische Dimension preiszugeben. Bereichert um die Erfahrungen der Moderne, in Kenntnis auch ihrer ästhetischen Innovationen bis zum Surrealismus, kehrt die Flanerie zu ihren Anfängen zurück: Wie Merciers Pariser Tableaux verfolgen Kracauers Berlinbilder sozialkritische und didaktische Absichten.

Zum Ende hin verliert Köhns Buch den Charakter einer Literaturgeschichte, die es versteht, aus den Wandlungen des urbanen Terrains, der gesellschaftlichen Verhältnisse und den Publikationsbedingungen der Autoren heraus die Entwicklung der „kleinen Form“ begreiflich zu machen. Es entschädigt durch brillante Einzelstudien zu einigen wichtigen Ausnahmeerscheinungen der deutschen Großstadtliteratur. Indem der Verfasser derart die verschiedenartigen, kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Ausprägungen des Flaneurs unterstreicht, gibt er Anlaß zur Hoffnung. Die Einsicht in das komplizierte, individuell äußerst unterschiedliche Kräftefeld, aus dem die Texte hervorgehen, straft die vergleisweise grobmaschigen Hypothesen vom Tod der Flanerie Lügen. Sei es, daß sie mehr auf den Rausch der Straße oder auf ihre Erkenntnis aus war immer mußte beides einem widerspenstigen Terrain abgewonnen werden. In der Auseinandersetzung mit dem pausenlos sich verändernden urbanen Raum beweist auch der Typus des Flaneurs eine enorme Wandlungsfähigkeit. Die Flaneure der postmodernen Städte werden Köhns schönes Buch gerne zur Hand nehmen, um sich ihrer Traditionen zu vergewissern.

Michael Bienert

Eckhard Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs von 1830-1933, Verlag Das Arsenal, Berlin 1989, 344 Seiten, 68 Mark