„... und dann könnte man eine neue Welt bauen“

■ Gedanken und Erinnerungen eines Ver-rückten / Wirklicher Wahnsinn oder wahnsinnige Wirklichkeit? Medikamente, die gegen „übersteigerte Kreativität“ verabreicht werden, haben in vielen Fällen Depressionen zur Folge

Am Telefon klang Thomas wie ein Manager der Yuppie -Generation, ein Organisator einer Interessengruppe, die sich auskennt in Sachen Presse. Zum Interview-Termin steht mir ein Riese gegenüber. Kraftlos und bleich unter den Bartstoppeln im Gesicht, das merklich aufgequollen ist. Er wohnt allein in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ein wenig schmuddelig, in der Küche nur ein Tisch, drei Stühle, die bei Bedarf ins sonst leere Wohnzimmer umgeräumt werden. „Die Wohnung ist schmutzig, aber sie lebt irgendwie“, sagt er, als hätte er meine Gedanken erraten. „Willst du eine Cola, einen Tee oder ein Wasser?“, dröhnt Thomas mich an.

Seine Hände zittern ein wenig, als er mein Glas auf den Tisch stellt. Der Tremor ist eine der vielen Nebenwirkungen von Psychopharmaka - eine eher harmlose Begleiterscheinung der Neuroleptikabehandlung. Nach der Psychose riet der Nervenarzt: „Machen Sie Sport und dann lesen Sie vier Stunden am Tag, schließen ihr Medizinstudium ab und werden Arzt.“

Thomas lacht, als er davon erzählt. „Ich habe Haldol bekommen und konnte wegen der Augenstörungen nicht lesen, das ist bei mir die kleinste Nebenerscheinung, Verlust der Libido eine andere. Und dann sagt dieser Arsch, daß ich lesen soll.“

Die Entrüstung bricht aus ihm heraus, die Wut über Psychiater, die sich Ärzte nennen, einen Eid abgelegt haben, der sie zum Helfen verpflichtet, die aber tatsächlich nur an den Symptomen der Patienten herumdoktern, ohne deren Leiden wirklich zu verstehen.

„Der Psychiater macht mich fertig. Nachts war ich fixiert, gefesselt ans Bett. Meine Blase war randvoll. Ich mußte aufs Klo, konnte mich den Pflegern aber nicht verständlich machen. Als ich es nicht mehr aushielt, habe ich ins Bett gepinkelt. Die Pfleger haben mich angebrüllt, weil sie die Laken wechseln mußten.“

Thomas ringt um die Worte, versucht seine Erfahrungen aus der Anstalt zu beschreiben, die Sprache reicht nicht aus. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn verstehe, aber die Wörter sind nicht die einzige Verständigungsebene zwischen Menschen. „Ich habe gespürt, daß es schon Menschen gibt, die einen Draht rüber haben, aber es sind nur die, die Ähnliches erlebt haben.“

Der Draht rüber in eine andere Welt. Die Welt eines sogenannten Manikers während seiner ersten „akuten Psychose“. Die Welt, die anderen verschlossen bleibt, die kennenzulernen auch die wenigsten interessiert, weil es eine vermeintlich kranke Sicht der Dinge ist. Eher ist es ein Selbstschutz, weil die Auseinandersetzung mit Gedanken und Gefühlen eines Ver-rückten auch die eigenen Schwächen widerspiegeln, die tief im Unterbewußtsein, seit der frühesten Kindheit verdrängt, brodeln.

„Eine wahnsinnige Energie kam in meinen Körper. Ich habe Saltos geschlagen, was ich noch nie gemacht habe in meinem Leben, und bin durch die Stadt gelaufen. Konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr telefonieren, habe wie ein Tier geröhrt, in mir ist alles zerschossen worden, was überhaupt möglich war in diesem Moment.“

Von einem Moment auf den anderen hat sich die Welt für Thomas verändert. In einem Taxi, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, fuhr er 400 Kilometer zu seinen Eltern. Zehn Tage hatte er nicht geschlafen, bis ihm eine Freundin am Telefon sagte: „Schlaf jetzt.“ Sie hatte diesen Draht rüber. Lange Zeit heroin- und kokainsüchtig, konnte sie nachempfinden und gab den einzig richtigen Rat. „Ich will, daß du jetzt schläfst.“ Einige Tage konnten die ratlosen Eltern den Sohn noch ertragen. Als sie nicht mehr weiterwußten, riefen sie den Notarzt. Auch der kannte sich nicht aus.

„Dann hat man mich überredet, ins psychiatrische Krankenhaus zu kommen, mehr oder weniger freiwillig, aber ich dachte, die Medizin will mich als Versuchsobjekt kaufen gegen Geld. Deswegen habe ich mitgemacht. Zur Behandlung wäre ich nie hingegangen.“

Dort wurde mit ihm gemacht, was routinemäßig mit allen Manikern gemacht wird. Er wurde ruhiggestellt mit hochpotenten Neuroleptika, die den Patienten lahmlegen. Neuroleptika, die Wahnsinns-Droge, das Allheilmittel in der „modernen“ Psychiatrie (siehe Kasten). Sie wirken angeblich antipsychotisch, führen aber langfristig zu unkontrollierten Bewegungsstörungen - sogenannten Tardiven Dyskinesien. Das Neuroleptische Maligne Syndrom (NMS) wurde in den USA mit Neuroleptika-Behandlung in Verbindung gebracht. Der Symptomkomplex endet tödlich. Fast harmlos erscheint dagegen eine weitere Folge solcher Medikation: Depressionen, die der Baseler Psychiater Paul Kielholz kürzlich in einem 'Spiegel‘ -Artikel als „qualvollste aller Krankheiten“ bezeichnet hat. Thomas wurde stark depressiv nach der Entlassung aus der Anstalt. Er fühlte sich klein, wollte sich am liebsten verkriechen und auf die nächste Manie warten.

„Sechs Psychosen habe ich dann gemacht, und es war immer derselbe Ablauf von Ereignissen. Wie ein Film, der immer im Kreis läuft, und ich habe es immer langsamer gemacht, damit ich mit der Wirklichkeit klarkomme. Damit ich jetzt mit dir reden kann; ich kann so reden, daß ich auch höre, daß du mich verstehen kannst. Das waren sechs Prozesse. Und jedesmal hat sich das Bewußtsein total geändert. Jetzt, nach sechs Psychosen, wo ich wieder Freunde habe, bekomme ich viele Feedbacks. Das hilft mir klarzukommen.“

Wie es im Moment aussieht, scheint er klarzukommen, auch wenn seine Gedanken nicht immer für jeden verständlich sind.

„Ein Freund von mir ist mal ausgerastet. Ich dachte, jetzt ist er auch ver-rückt. Und das war für mich irgendwie ein Erlebnis, weil ich dachte, es müssen alle mal ver-rückt gewesen sein. So richtig ihren Wahnsinn ausleben - und dann könnte man sozusagen eine neue Welt bauen.“

Lars-Ulrich Schlotthaus